Thomas Galli: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Ein ehemaliger Gefängnisdirektor plädiert dafür, Gefängnisse aufzulösen und entwirft Alternativen zum Strafvollzug.
Gleichzeitig werden in den Parlamenten Waffendeals ausgehandelt, Topmanager*innen entlassen tausende Angestellte, um ihre Profite zu erhöhen und Banker*innen bereichern sich auf Kosten der Steuerzahler*innen, ohne dass ihnen dafür Strafen drohen. Galli formuliert: „Solche Menschen können, ganz legal, viel grösseren Schaden anrichten als viele derjenigen, die im Gefängnis sitzen. Antisoziale Haltungen und Handlungen äussern sich in ‚höheren‘ Schichten nur weniger auffällig.“ (S. 117) Bei der Lektüre des Buches sollte man diese Zusammenhänge im Hinterkopf behalten, schliesslich geht es dabei immer auch darum, wer bestraft wird, welche Verstösse überhaupt geahndet und welche Interessen letztlich mit dem hiesigen Justizsystem verfolgt werden.
Das Bedürfnis nach Strafe ist so alt wie die Menschheit selbst: Im Laufe der Jahrhunderte hat es sich allerdings von einer archaischen Rache nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hin zu einer weniger blutigen Umsetzung entwickelt. Das Grundmotiv bleibt jedoch dasselbe: Wer anderen Leid zufügt, muss bestraft werden. Die Härte der Strafe soll sich am Ausmass des angerichteten Schadens bemessen, um durch Vergeltung wieder Gerechtigkeit herzustellen.
In unserer Gesellschaft haben wir die Bestrafung an den Staat abgegeben; im Kern geht es jedoch immer noch darum, Täter*innen ein Übel zuzufügen. Damit kann der Staat Menschen mit Freiheitsentzug bestrafen, auch wenn das gerne verschleiert wird: „Resozialisierung ist das neue und schönere Kleid, das man dem Strafvollzug anstelle des in die Jahre gekommenen grauen Umhangs der Vergeltung verpasst hat.“ (S. 34) Heute spricht man auch lieber von Justizvollzugsanstalten und Insass*innen, als von Gefängnissen und Gefangenen, oder von Hafträumen anstatt von Zellen, aber die Praxis bleibt dieselbe. Resozialisierung durch Wegsperren?
Galli macht deutlich, dass er es für weitgehend unmöglich hält, in einer totalitären Institution wie dem Gefängnis wirkliche Resozialisierung zu erreichen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Isolation, Lebensferne, Entmündigung der Insassen, Subkulturen, Gewalt und Drogenkonsum sind nur einige Schlagworte, die den Alltag im Gefängnis prägen. Gleichzeitig wird das gängige Strafsystem kaum hinterfragt:
„Keine Schule könnte auf Dauer bestehen, wenn sie nicht überprüft, wie viel ihre Schüler tatsächlich gelernt haben. Jedes Krankenhaus, das nicht in der Lage ist, Menschen erfolgreich zu behandeln, würde geschlossen werden […]. Ganz anders im Strafvollzug: Hier scheint die Erfolgskontrolle vor allem darin zu bestehen, möglichst wenig belastbares Zahlenmaterial zu erheben und nach aussen zu kommunizieren, um der vergeltungsorientierten Strafe weiter den Anschein einer vernünftigen und aufgeklärten Resozialisierung verleihen zu können.“ (S. 46f.)
Die Rückfallquoten sprechen für sich: Der überwiegende Teil entlassener Inhaftierter wird erneut straffällig.Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse
Galli fordert, Präventionsangebote auszubauen und wegzukommen von der „rückwärtsorientierten Vergeltung von Schuld“ (S. 213), hin zu einer aktiven Wiedergutmachung und Verantwortungsübernahme der Täter*innen. Es soll um die Bedürfnisse der Opfer gehen und um eine wirkliche Resozialisierung der Täter*innen. Dazu bedarf es neuer Strukturen: Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Jurist*innen, Kriminolog*innen und so weiter sollen stärker einbezogen und neue, dezentrale und offenere Formen des Freiheitsentzuges etabliert werden. Galli spricht hier zum Beispiel von elektronisch überwachtem Hausarrest oder einem Vollzug in freien Formen, beispielsweise in Wohngruppen.
Durch eine Reform des Strafrechts sollen ausserdem Drogen- und Bagatelldelikte entkriminalisiert werden. Lediglich den gefährlichsten Straftäter*innen – darunter fasst Galli Menschen, „die sich mit ihren Taten ungeheuer weit von einem menschlichen Verhalten entfernt haben“ (S. 263) – soll zum Schutz der Allgemeinheit die Freiheit unter Wahrung der Menschenwürde lebenslang entzogen werden. Galli schlägt hier gesicherte Wohnsiedlungen vor, innerhalb derer sich die Straftäter*innen frei und selbstbestimmt bewegen und einer Arbeit nachgehen können. Alles, was in diesen Arbeitsbetrieben erwirtschaftet wird, soll den Opfern von Verbrechen zugutekommen. Insgesamt würde dieses Modell die Steuerzahler*innen sehr viel weniger kosten als der derzeitige Strafvollzug und gleichzeitig negative Auswirkungen vermeiden, die Gefängnisse auf ihre Insassen haben.
Insgesamt sind Gallis Überlegungen sehr einleuchtend; insbesonders im Hauptteil des Buches, in dem er eindrücklich belegt, weshalb unser derzeitiges Justizsystem mehr Schaden als Nutzen bringt. Trotzdem bleiben einige Aspekte unklar: Wie kann es zum Beispiel im Kapitalismus möglich sein, die soziale Dimension von Straftaten in den Mittelpunkt zu stellen, um beispielsweise korrupte Manager*innen stärker in den Blick zu nehmen als Kleinkriminelle aus Armutsverhältnissen? Wie kann hier ein Umdenken stattfinden, wenn der Autor selbst konstatiert, unser Strafrecht diene dazu, „unser kapitalistisches Wirtschaftssystem möglichst reibungslos am Laufen zu halten“ (S. 206)? Hier lässt Galli offen, woher die Triebkraft für die reformistische Veränderung kommen soll.
Offen bleibt beispielsweise auch, nach welchen Kriterien schwerste Straftäter*innen dieser Kategorie zugeordnet werden, legt er doch an anderer Stelle dar, dass die Treffsicherheit prognostischer Gutachten sehr gering ist. Ungeachtet dieser offenen Fragen ist Gallis Buch sehr zu empfehlen, spannend geschrieben und inhaltlich fundiert. Sein Entwurf einer Zukunft ohne Gefängnisse wirkt daher weniger wie eine ferne Utopie, sondern vielmehr wie eine ganz konkrete Alternative.
Thomas Galli: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Edition Körber, Hamburg 2020. 312 Seiten, ca. 22.00 SFr, ISBN 978-3-89684-279-4