In der Reihe „Frauen, die die Zukunft gestalten“ stellen wir die bekannte Pädagogin, Soziologin, Umweltschützerin, Feministin und Menschenrechtsaktivistin Moema Viezzer vor. Sie ist auch Autorin des Buches „Wenn man mir erlaubt zu sprechen“ über das Leben der bolivianischen Bergbauarbeiterin Domitilla Barros de Chungara, die sie im mexikanischen Exil kennenlernte. Das Buch wurde in vierzehn Sprachen übersetzt. Heute lebt sie in Brasilien; noch mit 82 Jahren hat sie nicht aufgehört, Aktivistin zu sein.
Guten Tag Moema,
Guten Tag Juana, schön dich kennenzulernen.
Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Willkommen bei Pressenza, hier bei “Frauen, die Zukunft gestalten”.
Vielen Dank für die Einladung!
Wir reden mit Moema Viezzer. Es ist schwierig, mit wenigen Worten das Leben einer Frau, einer Schriftstellerin, Erzieherin, Feministin zu beschreiben, die so viel erreicht hat und seit Jahrzehnten aktiv ist. Könntest du uns dein Alter verraten?
Ich bin 82, Brasilianerin, engagiere mich seit mehr als 60 Jahren als Feministin, aber vor allem seit 1975, als ich zur internationalen Frauenkonferenz die parallel zur ersten Konferenz der Vereinten Nationen zu Frauen, Entwicklung und Frieden in Mexico stattfand. Ich lebte damals in Mexiko im Exil wegen meiner Arbeit als „Volkserzieherin“, als Schülerin von Paolo Freire. Dort hatte ich die Gelegenheit, eine Frau kennenzulernen, die in den Zinnminen in Bolivien arbeitete und war begeistert von ihrer tiefgründigen Weisheit. Sie hatte nur die Grundschule besucht, aber konnte aus einem tiefen Klassenbewusstsein heraus wunderbar von ihrem Land erzählen. Nach dieser Begegnung beschäftigte ich mich mehr mit dem Feminismus und schrieb das Buch: “Wenn man mir erlaubt zu sprechen”, das in 14 Sprachen übersetzt wurde und als Standardwerk in die Volksbildung einging.
Entschuldige, Moema… Für alle, die dieses Buch nicht kennen: Es erzählt die Geschichte und das Leben der bolivianischen Minenarbeiterin Domitilla Barros de Chungara. Soweit ich gesehen habe, ist es das am weitesten verbreitete Buch in Bolivien – mit Ausnahme einiger religiöser Texte.
Am Anfang schien es mir interessant, mich auf diese neue Dimension einzulassen, die der Feminismus gerade für die Menschheit aufmachte. Und es war eine beachtliche Herausforderung, manchmal auch wahrlich ein Risiko, sich auf die Auseinandersetzung mit sehr unterschiedlichen, tendenziell männlichen Ebenen, einzulassen: Ich diskutierte mit Gewerkschaftlern, Kirchen aber immer aus der Perspektive der Volksbildung.
Wir haben einiges unternommen und tun das weiterhin. Was mir sehr geholfen hat weiterzukommen, war die theoretische und praktische Erfahrung des Ökofeminismus. Das hat mir auch weitergeholfen, besser zu verstehen, was speziell das Leben der Frauen prägt: die Reproduktion und wie ignorant mit dieser Dimension umgegangen wird, ja wie sie völlig ins Abseits gedrängt wird, weil es nur mehr um die Produktion von Waren und um Dienstleistungen geht. Genau diese Denkweise hat die Menschen dahin gebracht, wo nur wirtschaftliche, politische, militärische, religiöse Macht zählt, dahin wo immer die Männer sitzen. Es wurde schon viel dazu geschrieben, gesagt, erklärt, aber es bleibt schwierig, in der Praxis etwas zu ändern, wenn wir sehen wie ein Mann wie der Direktor der Santanderbank stirbt, weil er keine Luft bekommt…. Wir müssen das ganze Hegemoniemodell überdenken, das die Wirtschaft bei unserem Denken und Handeln über alles andere stellt: Über unser Leben, über die Gesellschaft und die Art und Weise wie öffentliche Güter und die Natur genutzt werden….Ich glaube, dass Frauen derartige Reflexionen stark vorangebracht haben.
Du hast jetzt verschiedene Themen angerissen, aber machen wir noch einmal einen Schritt zurück: Was hat dich eigentlich dazu gebracht, so aktiv zu sein, dich für so viel zu engagieren, nicht nur auf Frauen bezogen, sondern auch auf die Umwelt, auf die indigene Bevölkerung…Ich meine, auf welchen persönlichen Erfahrungen beruht dein Aktivismus über Jahrzehnte?
Also… da gab es keinen einzelnen Anlass, da kamen mehrere Sachen zusammen… Ich glaube, dass es mich seit meiner Kindheit gereizt hat; ich habe oft meine Mutter und Großmutter begleitet, wenn sie sich für die Gemeinschaft einsetzten. Deswegen bin ich einen Konvent eingetreten. Ich war siebzehn Jahre Klosterschwester in einer Gemeinschaft, die sich nicht der religiösen Besinnung, sondern der Aktivität verschrieben hatte. Ich half, die Gemeinschaft zu erneuern und genau zu dieser Zeit, hatte ich das Glück, Paolo Freire zu begegnen, seinem Werk, seiner Pädagogik der Unterdrückten. In Brasilien fand das in einem faszinierenden Kontext statt, angeregt von der Theologie der Befreiung und durch die vielen Basisgruppen, in die ich mich einklinkte. Und dann habe ich nicht mehr aufgehört.
Wie hängen die ganzen Dinge, die du verteidigst, zusammen? Was ist der rote Faden, der sie verbindet?
Ich glaube, dass die Grundlage von allem die Menschenrechte sind. Oder anders ausgedrückt, dass wir alle Menschen sind, unabhängig von unserem Alter, unserer Rasse, Hautfarbe, Religion, Kultur, Herkunft.
Warum ist das eigentlich so schwierig zu akzeptieren? Ich bin überzeugt, dass man irgendwann einfach dazu kommt. Letztlich stößt man unweigerlich darauf, wenn man sich mit dem Feminismus auseinandersetzt. Ich sehe da die ganze Entwicklung die wir durchgemacht haben vor mir: Am Anfang waren da Frauen aus der Mittelklasse und Arbeiterinnen, die den Weg vorgaben. Mit der Volksbildung haben wir hier eine enorme und wichtige Arbeit geleistet, vor allem an der Peripherie der großen Städte. Später kamen die Frauen aus den ländlichen Gemeinden dazu, z.B. aus der Bewegung „Sin Terra/ohne Land“. Sie entwickelten eine ganz eigene Art, sich feministisch zu engagieren – aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus. Auch die schwarzen Frauen haben neue Elemente beigesteuert – aus ihrer Unterdrückungserfahrung heraus. In der letzten Zeit macht es mich ganz glücklich, wenn ich sehe wie die indigenen Frauen noch ganz andere Überlegungen einbringen. Das sind verbindende Elemente und ich bin fest überzeugt, auch wenn wir jeweils aus einem anderen Lebenszusammenhang kommen, wie dem der schwarzen Frauen beispielsweise. Unabhängig von wo der Faden gesponnen wird, bringt er uns dazu, den ganzen „Film“ – wie ich das nenne – anzuschauen. Das ist genau das entscheidende Element für die Vision, die wir innerhalb der Bewegungen teilen. Jetzt ist der Moment da, wahrzunehmen, wie alles zusammenspielt, was unsere gemeinsame Grundlage ist. Wir müssen trotzdem alle noch viel dazu lernen, um es noch viel ganzheitlicher und systematischer zu betrachten. Dies ist wohl eine der großen Herausforderungen in unserer Zeit.
Sicher. Wenn wir von Konvergenz, von Netzwerkarbeit reden, wie können wir bei so verschiedenartigen Feminismen auch Männer einbinden? Weil sie ja 50% der Menschheit sind….Wie können wir dadurch die weibliche Dimension weiterentwickeln?
Ich glaube, wir brauchen einen eigenen Raum der Frauen, um das, was passiert, zu analysieren. Aber ich glaube auch, dass es eine große Zurückhaltung seitens einiger tausendjähriger Institutionen, wie z.B. der Kirchen immer gab und noch gibt. Und es ist schon traurig, wenn man sieht, wie dieses tausendjährige patriarchale System so eng verbunden ist mit dem, was das Kolonialsystem ausmachte und demnach den Herrschaftsstrukturen.
Herrschaft des Mannes über die Frau, so wie auch die Herrschaft über andere Rassen, und so weiter… Der Dialog zwischen Männern und Frauen ist sicher wichtig. Aber es besteht schon latent die Gefahr, dass dieser Dialog auch kaputt gemacht werden kann durch bestimmte Männer, die sich untereinander die Welt aufteilen zwischen weiblicher und männlicher Welt und die eine sehr klare Vorstellung davon vertreten, was die menschliche Natur und die gesellschaftlichen Rollen sind, die Männern und Frauen zustehen. Sie argumentieren damit, wie sich die Rollenzuschreibungen entwickelt haben, angefangen von der „Basisorganisation“ der Familie, und dann weitergetragen wurden über die Erziehung und die Arbeitswelt. Männer, die das langsam differenzierter sehen, geraten durchaus auch mal in Schwierigkeiten.
Ich denke z.B. an Bolivien wo ein stellvertretendes Ministerium zur „Entpatriarchalisierung und Entkolonialisierung“ geschaffen wurde…aber solange das nicht in die Kultur der Menschen, ins öffentliche Bewusstsein Eingang findet, wird das nicht funktionieren – auch wenn es noch so viele wissenschaftliche Arbeiten oder Ministerien dazu gibt. Das ist eine Bildungsaufgabe auf allen Ebenen….
Moema, welche Elemente, wenn wir mal zusammenfassen, scheinen für dich wesentlich für die Zukunft?
Ich weiß es nicht genau, aber ich habe den Eindruck, dass viele Überlegungen im Raum stehen. Entscheidend ist, unser Verhältnis vom Menschen zur Natur umzukrempeln. Wie kann man den Stellenwert der Wirtschaft richtig einordnen, die Fülle, die das Leben noch ausmacht, und schafft man es, den Markt nicht über alles andere zu stellen? Die Staaten, die Länder zählen ja nicht mehr. Einige multinationale Unternehmen ordnen an, was zu geschehen hat und haben sogar die Vereinten Nationen im Griff. Das ist eine riesige Herausforderung, die wir in dieser Epoche der Menschheitsgeschichte bewältigen müssen. Wie machen wir das? Nun, es gibt zahlreiche Initiativen, aber kein einheitliches Rezept. Alle haben ihre Rolle zu spielen, aber es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass wir alles verändern müssen, alles in den Dienst des Gemeinwohls stellen müssen. Da geht es nicht nur um den Menschen, sondern das lebendige Zusammenleben aller. Aus diesem Grund ist die Verteidigung von verfügbaren Gemeingütern so wichtig. Wir können ohne reine Luft nicht leben, viele Menschen sterben, weil es kein sauberes Wasser gibt, wenn ein Fluss wegen Katastrophen versiegt, die keine Unfälle sind, sondern durch den Durst nach Profit verursacht wurden. Es geht um einen strukturellen Wandel; wir befinden uns aktuell in einer sehr schwierigen Situation, aber ich glaube, dass sie gleichzeitig eine große Chance ist, ein privilegierter Moment in der Geschichte der Menschheit.
Was für einen Aspekt scheint dir jetzt besonders wichtig?
Die Fülle von Studien, Informationen, Überlegungen, Analysen die die Menschheit erarbeitet hat, gab es vor 50 Jahren noch nicht; das ist schon so etwas wie ein Privileg. Ich glaube, dass wir in einem besonderen Moment leben. Eines der positiven Elemente der Globalisierung ist zum Beispiel, dass ich gerade in Echtzeit von Brasilien aus mit dir in Spanien rede. Ich habe auf dem Weltsozialforum – an dem ich im Januar teilgenommen habe – eine unglaubliche Diskussionsrunde miterlebt durch die Zeugnisse und Analysen von Frauen: eine erzählte auf Spanisch von den Sahrauis, eine andere von Indien und eine von Haiti. Und jede von ihnen hat vorgeführt, wie sie in ihrer Heimat Fragen diskutieren, die alle letztlich global sind. Das ist ein echtes Privileg, oder zumindest ich halte mich für außerordentlich privilegiert, Zugang zu solchen Begegnungen zu haben.
Ganz sicherlich…und das gibt uns Kraft, um weiterzumachen.
Ja, da hast du Recht. Vielen Dank, Moema.
Nichts zu danken. Es hat mir viel Spaß gemacht, dass ich diese Gelegenheit nutzen konnte mich mit dir auszutauschen, Juana
Ich umarme dich. Danke Moema, und lass uns in Kontakt bleiben.
Übersetzung aus dem Italienischen von Heidi Meinzolt, lektoriert von Chiara Pohl, beide vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!