Áñez räumte den Militärs per Dekret Straffreiheit ein
Die Rechte Boliviens verzeichnete bei den Regionalwahlen einige Erfolge, bleibt dabei aber zersplittert: In der Oppositionshochburg Santa Cruz siegte bei der Gouverneurswahl der rechtsklerikale Populist Luis Fernando Camacho, der im November 2019 die Proteste gegen Evo Morales organisiert und dann mit Bibel und Nationalflagge in den Händen den alten Präsidentenpalast in La Paz symbolisch zurückerobert hatte. Neuer Bürgermeister in La Paz wird Iván Arias, ein ehemaliger Minister der Regierung von Áñez. Während Camacho und Arias sich mit ihrer geplanten Amtsübernahme Anfang Mai Immunität vor Strafverfolgung sichern könnten, bleibt diese für Jeanine Áñez unerreichbar: Sie kandidierte im Amazonas-Departement Beni als Gouverneurin, landete bei der Wahl aber nur auf dem dritten Platz.
Innerhalb der MAS hatte die Auswahl mancher Kandidat*innen zuvor für Streit gesorgt. In El Alto, der Stadt Potosí und Cochabamba beklagten protestierende Parteianhänger und verbündete soziale Bewegungen, dass Evo Morales als Parteivorsitzender die Kandidat*innen per dedazo, per Fingerzeig, bestimme, statt die Parteibasis entscheiden zu lassen. Besonders hitzig war der Konflikt in El Alto, Boliviens zweitgrößter Stadt, die von ländlicher, indigener Bevölkerung und starken sozialen Organisationen geprägt ist: Dort wurde die populäre ehemalige Senatspräsidentin Eva Copa trotz großer Chancen auf das Amt als Bürgermeisterin von der MAS-Parteispitze nicht aufgestellt – Copa entschied sich deshalb für eine Kandidatur in der neuen Gruppierung Jallalla La Paz, mit der sie die Wahl mit überragenden 69 Prozent der Stimmen gewann. Im Departamento Pando wird die frühere MAS-Politikerin Ana Lucía Reis für eine andere Partei Bürgermeisterin der Hauptstadt Cobija, die Stichwahl um das Gouverneursamt erreichte Regis Richter, der zuvor von sozialen Bewegungen als MAS-Kandidat bevorzugt, dann aber von der Parteispitze abgelehnt wurde.
Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS. Dabei hatten manche kurzzeitig eine mögliche Neuaufstellung der MAS vorausgesehen, als im Oktober 2020 Luis Arce mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staats Bolivien gewählt worden war. Das Ergebnis war damals in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne ihre Identifikationsfigur, den Parteivorsitzenden und langjährigen Präsidenten Evo Morales (2006-2019) gewinnen. Nach fast 14 Jahren an der politischen Macht gab es innerhalb sozialer Bewegungen und der MAS gerade von Seiten junger Menschen durchaus den Wunsch, die Korruption und den machismo stärker zu bekämpfen und Themen wie Feminismus und Umweltschutz mehr zu berücksichtigen. Es schien der Zeitpunkt einer Abnabelung gekommen − von Evo Morales und seinem einflussreichen Umfeld in Regierung und Partei. „Wir werden regieren, indem wir auf das bolivianische Volk hören“, hatte Vizepräsident David Choquehuanca noch als Kandidat vor der Wahl 2020 erklärt, „und sie fordern, dass die Entourage [von Morales] nicht zurückkehrt.“ Doch nur einen Tag nach der Vereidigung Arces am 8. November 2020 überquerte Morales von Argentinien aus die Grenze zu Bolivien, wo er von Tausenden Anhängern empfangen und auf einem Konvoi durch das halbe Land begleitet und bejubelt wurde.
Es brodelt an manchen Stellen innerhalb der MAS
Nachdem Morales nach einem Jahr im Exil zurückkehrte und als Parteivorsitzender der MAS im Regionalwahlkampf allgegenwärtig war und aus der ersten Reihe Entscheidungen trifft, scheint Präsident Arce häufig im langen Schatten der Identifikationsfigur Morales zu stehen. Am Tag der Festnahme von Áñez war es Morales, der sich via Kurznachrichtendienst Twitter meldete und in einem Tweet forderte: „Für Gerechtigkeit und Wahrheit für die 36 Todesopfer, die mehr als 800 Verwundeten und die mehr als 1.500 bei dem Staatsstreich illegal Inhaftierten. Dass die Täter und Komplizen der Diktatur, die die Wirtschaft ausgeplündert und das Leben und die Demokratie in Bolivien angegriffen haben, untersucht und bestraft werden.“ Áñez und die früheren Minister selbst nannten ihre Festnahmen „illegal“, sie sprachen von „politischer Verfolgung“ und „Machtmissbrauch“. Zu ihrer Unterstützung organisierten die rechten Bürgerkomitees von Santa Cruz, La Paz und Cochabamba große Kundgebungen.
Die Verhaftung von Áñez und Co. schlug auch international Wellen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) forderte die Freilassung der Gefangenen „bis zu unparteiischen Prozessen“ und schlug eine internationale Kommission zur Untersuchung der letzten Regierungsperiode des ehemaligen Präsidenten Morales bis zur Gegenwart vor − ein Vorschlag, den zwölf ehemalige Präsident*innen der Region, darunter Luiz Inácio „Lula“ da Silva und Dilma Rousseff aus Brasilien, in einer gemeinsamen Erklärung entschieden ablehnten. Die USA forderten die Freilassung von Áñez und ihren Ministern, die Europäische Union und das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderten ordentliche Verfahren und eine transparente Justiz frei von politischem Druck. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador bewertete dagegen die Aufnahme des Verfahrens positiv.
Jeanine Áñez und ihre ehemaligen Minister sitzen nun erst einmal sechs Monate in Untersuchungshaft. Ihnen werden von der Generalstaatsanwaltschaft vor allem zwei folgenschwere Vorwürfe gemacht: Erstens der des Staatsstreichs, wobei die Opposition zur Verteidigung von Áñez argumentiert, diese habe gemäß der Rangfolge in der bolivianischen Verfassung das Amt als Präsidentin übernommen. Deshalb werden in Bolivien jetzt auch gründlich entscheidende Details diskutiert: Wann und warum genau hatte sich Morales 2019 zum Rücktritt und zur Flucht entschieden? War das, als ihn Oberbefehlshaber des Militär unter Druck setzten oder war der entscheidende Auslöser bereits zuvor die bröckelnde Unterstützung durch Verbündete wie den mächtigen Gewerkschaftsdachverband Central Obrera Boliviana (COB)? Auch die Rolle der geplanten Ausbeutung von Lithium und eine vermutete Finanzierung des Putsches durch die Regierung Großbritanniens wird ausgiebig erörtert.
Der zweite schwerwiegende Vorwurf der Anklage sind die Massaker in Senkata (La Paz), Sacaba (Cochabamba) und anderen Orten an Demonstrant*innen, bei denen im November 2019 nach offiziellen Ermittlungen mindestens 35 Menschen getötet und 833 verletzt wurden. Nach der Machtübernahme war es damals in mehreren Landesteilen zu massiven Kundgebungen für Evo Morales und gegen die rechte De-facto-Regierung gekommen, und zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften und zwischen verschiedenen politischen Lagern. Einen Tag nach ihrer Vereidigung als Präsidentin erließ Jeanine Áñez das Dekret 4078, das dem Militär bei Einsätzen zur Herstellung der öffentlichen Ordnung Straffreiheit einräumte – praktisch die Erlaubnis für das Militär, die Proteste mit brutaler Gewalt zu beenden. Und erst 20 Tage später, als die Proteste im Land nachließen, wurde das Dekret wieder aufgehoben.
Jeanine Áñez und die anderen Angeklagten sitzen nun erst mal sechs Monate lang in Untersuchungshaft. Boliviens Justizminister Iván Lima forderte bereits eine Strafe von 30 Jahren Haft für Áñez. Luis Arce meldete sich zweieinhalb Wochen nach der Festnahme von Jeanine Áñez dann doch noch und bekräftigte, dass die Justiz eine Strafverfolgung wegen Putsches verfolge: „Wir stellen hier noch einmal klar, dass es im November 2019 einen Staatsstreich gab“, sagte Arce am 1. April. Die Menschen würden Gerechtigkeit fordern, und diesem Wunsch werde man nachkommen, betonte er.