Felix Schindler für die Online-Zeitung INFOsperber
Sie alle halten sich für vernünftig. Die einen möchten als verantwortungsbewusst angesehen werden, die anderen als kritisch. Die einen wollen den Schaden der Pandemie limitieren, die anderen den Schaden der Massnahmen. Eigentlich beides legitime Anliegen. Trotzdem ist ihre grösste Gemeinsamkeit: die Verachtung für die jeweils anderen.
Wer wissen will, wer recht hat (oder eher: dass er oder sie zu jenen gehört, die recht haben), wird in diesem Text nichts Nützliches finden. Wer sich verständigen will, hingegen schon. Der britisch-österreichische Philosoph Karl Popper definierte 12 Regeln, die es selbst Dogmatiker:innen und Fundamentalist:innen erlauben sollten, miteinander zu reden. Die 12 Regeln wurden 1994 unter dem bemerkenswerten Titel «Rechte und Pflichten derer, die von ihren Mitmenschen lernen wollen» veröffentlicht. Es lohnt sich, sie mehrmals zu lesen.
- Jeder Mensch hat das Recht auf die wohlwollende Auslegung seiner Worte.
- Wer andere zu verstehen sucht, dem soll niemand unterstellen, er billige schon deshalb ihr Verhalten.
- Zum Recht ausreden zu dürfen, gehört die Pflicht, sich kurz zu fassen.
- Jeder soll im Voraus sagen, unter welchen Umständen er bereit wäre, sich überzeugen zu lassen.
- Wie immer man die Worte wählt, ist nicht sehr wichtig. Es kommt darauf an, verstanden zu werden.
- Man soll niemanden beim Wort nehmen, wohl aber das ernst nehmen, was er gemeint hat.
- Es soll nie um Worte gestritten werden, sondern um die Probleme, die dahinterstehen.
- Kritik muss immer konkret sein.
- Niemand ist ernst zu nehmen, der sich gegen Kritik immunisiert hat.
- Man soll einen Unterschied machen zwischen Polemik, die das Gesagte umdeutet, und Kritik, die den anderen zu verstehen sucht.
- Kritik soll man nicht ablehnen, auch nicht nur ertragen, sondern man soll sie suchen.
- Jede Kritik ist ernst zu nehmen, selbst die in böser Absicht vorgebrachte: Denn die Entdeckung eines Fehlers kann uns nur nützlich sein.
Dass Poppers Regeln durchaus auf eine gesellschaftliche Krise wie die unsere ausgelegt waren, das legt das Editorial der Zeitschrift «Aufklärung und Kritik» nahe, in der sie veröffentlicht wurden. Der deutsche Philosoph Hans-Joachim Niemann lieferte damals eine beinahe beängstigend präzise Analyse des intellektuellen Schlachtfeldes, auf dem wir uns heute – 27 Jahre später – befinden. Das Schlachtfeld, auf dem es fast unmöglich geworden ist, uns trotz Meinungsverschiedenheiten konstruktiv zu begegnen:
«Freies Denken und rationales Handeln werden heute von drei Seiten zugleich angegriffen oder unterminiert: Auf der materiellen Ebene verdrängen Gewalt oder Gewaltandrohung zunehmend das rationale Ringen um Kompromisse. Auf der geistigen Ebene vergrössert sich die Schar der Relativisten und Nihilisten, die die Suche nach Wahrheit aufgegeben haben und die vernünftige Argumente als Rhetorik und Propaganda betrachten. Die Dritten im Bunde unkritischer Irrationalisten sind jene Dogmatiker und Fundamentalisten, die sich im Besitz der Wahrheit glauben und die sich seit jeher die Ohren gegen jedes bessere Argument verstopften.»
Wer sowohl das freie Denken als auch das rationale Handeln verteidigen will, der muss sich überlegen: Gelingt uns das eher, wenn wir recht haben und wir jene verhöhnen, die unserer Meinung nach im Unrecht sind? Oder wenn wir uns verständigen?