Das Ringen um die Fertigstellung der Gasleitung „Nord Stream 2“ ist offenbar in die letzte Phase übergegangen: In Anbetracht des kürzlichen Verzichts der USA zumindest auf Sanktionen gegen deutsche Beteiligte des Bauvorhabens sind Verlegungsschiffe dabei, die letzten 80 des insgesamt rund 1230 Kilometer langen Doppelstrangs der Ostseepipeline zu verlegen, die russisches Gas jährlich in einem Umfang von 55 Milliarden Kubikmeter direkt und sicher nach Deutschland bringen soll. Dennoch reißt die Diskussion um das Energieprojekt, das unlängst zu einem Politikum geworden ist, nicht ab.
Die Gegner von Nord Stream 2 monieren weiterhin, dass es sich um ein geopolitisches Vorhaben Russlands handle, das seinen strategischen Einfluss in Europa erhöhen und die europäische Gemeinschaft von sich abhängig machen wolle. Befürworter verweisen auf eine rein wirtschaftliche Unternehmung, das einen klaren ökonomischen Nutzen für alle Beteiligten bringe.
Generell betrifft Nord Stream 2 in großem Maße unter anderem die deutsch-amerikanischen Beziehungen, wo es nun schon seit Jahren zu den Hauptstreitpunkten zählt. Daran hatte auch der Regierungswechsel in Washington Anfang des Jahres zunächst nichts geändert. Denn auch für die Biden-Administration geht es nicht so sehr um den angeblichen Schutz Europas vor Russland, sondern um fundamentale US-Interessen, weshalb das Weiße Haus alles in seiner Macht Stehende zu tun versucht, um dem Energieprojekt zu schaden. Dass die US-Regierung neuerdings offiziell auf Sanktionen gegen die Betreibergesellschaft von Nord Stream 2 und deren deutschen Geschäftsführer verzichtet, ändert nicht an der grundsätzlichen Haltung Washingtons in dieser Problematik.
Scheinargument: Europas vermeintliche Abhängigkeit von Russland
Die Vereinigten Staaten haben seit dem Beginn des Bauvorhabens betont, man betrachte diese Ostseepipeline als ein primär durch geopolitische Interessen motiviertes Projekt Russlands und dass die Fertigstellung und Inbetriebnahme der Leitung im Interesse der Europäer unbedingt verhindert werden sollte. Der US-Außenminister Antony Blinken hatte diesem Sinne verlautet, dass es sich bei Nord Stream 2 US-Präsident Biden zufolge um „ein russisches geopolitisches Projekt handelt, das Europa spalten und die europäische Energiesicherheit schwächen soll.“
Auch diverse Experten verweisen seit Jahren darauf, dass Moskau sich einen klaren geopolitischen Vorteil nach der Inbetriebnahme der Leitung verschaffen werde und die europäische Erdgasversorgung als Machtinstrument missbrauchen könnte, etwa im Streit mit der Ukraine oder Polen. Und auch wenn die russische Machtpolitik sich bisher nur selten gegen deutsche Interessen gerichtet habe, so würde eine weitere Pipeline durch die Ostsee die Machtfrage im Verhältnis zu Deutschland noch viel deutlicher stellen. Im Falle von zeitweiligen Lieferunterbrechungen müsste Berlin wirtschaftliche und politische Kosten hinnehmen und hätte kurzfristig auch kaum Alternativen zu den Nord Stream-Pipelines.
Trotz der Tatsache, dass Moskau die Erdgas- und Erdölversorgung in den über 50 Jahren der Energie-Partnerschaft mit Westeuropa kein einziges Mal als politisches Druckmittel eingesetzt hatte und dass es bei allen Nord-Stream-Projekten eine beidseitige Abhängigkeit vorliegt, äußern die USA und andere Kritiker von Nord Stream 2 wiederholt Vermutungen, der Kreml werde sehr wahrscheinlich durch einen Lieferstopp, der nicht aus Speicherkapazität und über alternative Versorgungswege kompensiert werden kann, für erheblichen politischen Druck in Europa sorgen.
Russland deshalb so weit wie möglich aus dem europäischen Gasgeschäft zu verdrängen, um dem Land den vermeintlichen Machtfaktor zu nehmen, ist für die amerikanische Seite jedoch nicht das einzige und wichtigste Ziel der Amerikaner.
Bereits nach den einschneidenden US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 Ende 2019, als die Trump-Regierung und einige US-Senatoren dem schweizerischen Betreiber der Verlegeschiffe, der „Allseas Group“, ans Herz gelegt hatten, die Arbeit an dem Pipeline-Projekt schleunigst einzustellen, wurde mehr und mehr deutlich, dass es Washington in dieser Streitfrage primär nicht an der Energiesicherheit europäischer Staaten gelegen ist. Im Gegenzug spricht sehr viel dafür, dass die USA durch Beschränkungen in erster Linie ihre eigenen Wirtschaftsinteressen verfolgen, die mit deutschen Interessen im Bereich Energiepolitik nicht nur nicht konvergieren, sondern offenbar sich gegen diese richten.
Denn trotz wiederholter Beteuerungen aus Washington, um eine zu starke Abhängigkeit Europas von russischem Gas besorgt zu sein, ernannte US-Präsident Joe Biden im April einen sogenannten „Sonderbeauftragten für Nord Stream 2“, dessen einzige Aufgabe darin besteht, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um ein für beide Seiten vorteilhaftes Energieprojekt zwischen zwei souveränen Staaten – Deutschland und Russland – zu untergraben. Darin ist eine klare Absicht der USA erkennbar, nicht etwa den Schutz Deutschlands und der anderen Europäer zu fördern, sondern die Beeinträchtigung deutscher und damit auch europäischer Wirtschaftsinteressen zu forcieren. Es liegt nämlich nicht im US-Interesse, (europäischen) Konkurrenten auf dem Weltmarkt künftig Produktionsvorteile gegenüber US-Wettbewerbern zu überlassen.
Das Lavieren der Bundespolitik und ihr Festhalten an Nord Stream 2 vor diesem Hintergrund sollte alle Zweifel ausräumen, dass es für die exportorientierte deutschen Wirtschaft in diesem Zusammenhang in Wirklichkeit viel mehr auf dem Spiel steht, als nur die vermeintliche „zu starke Abhängigkeit von Russland“.
US-Wirtschaftsinteressen contra Nord Stream 2
Auch wenn die USA und andere Staaten sowie unzählige Medien nicht müde werden, Nord Stream 2 als die „geopolitisch wohl umstrittenste Gaspipeline der Welt“ zu diffamieren, steht Berlin weiterhin voll hinter dem Wirtschaftsprojekt. Ende April hat Deutschlands Außenminister, Heiko Maas, wiederholt erklärt, Nord Stream 2 sei nach Einschätzung der Bundesregierung „aus energiepolitischer Sicht sinnvoll“.
Das Weiße Haus hingegen brachte kurz darauf, im Rahmen der Pressekonferenz zu den ersten 100 Amtstagen von Präsident Biden, die Ostseepipeline mit Fragen der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der USA in Verbindung und konstatierte, dass man mit seinen Verbündeten unter anderem in puncto Nord Stream 2 nicht einverstanden sei.
„Wir haben ganz klar deutlich gemacht, zum Beispiel der Bundesregierung, dass wir Nord Stream 2 für ein schlechtes Geschäft halten. Sie hat eine andere Sicht darauf, und wir haben Schritte unternommen, einschließlich einiger konkreter Schritte, um zu unterstreichen, inwieweit wir uns verpflichtet haben, sie dazu zu bringen, ihre Sicht auf diese Pipeline zu ändern“, zitiert die Nachrichtenagentur TASS einen hochrangigen Sprecher der US-Regierung.
Sowohl wegen dieser fragwürdigen Haltung als auch in Anbetracht dessen, dass die von Washington geführten Handels- und Wirtschaftskriege inzwischen zum Markenzeichen der USA geworden sind, kann man die US-Sanktionspolitik in Bezug auf Nord Stream 2 durchaus als einen wirtschaftlich motivierten Kampf oder sogar als Wirtschaftskrieg gegen Deutschland auffassen. Den Vereinigten Staaten geht es schlicht darum, die eigenen Produzenten und damit die US-Industrie zu stärken, in dem man die deutschen Konkurrenten ihrer billigen Energieträger aus Russland „beraubt“.
Da Nord Stream 2 das Transitland Ukraine meidet, wird der Endpreis für dieses Gas für die Abnehmer in Deutschland und anderen EU-Staaten dementsprechend viel günstiger ausfallen, als der Preis für die gleiche Menge des Transitgases. Die Ukraine verdient jährlich etwa drei Milliarden US-Dollar am Gastransport in die EU, weil aber dieser Anteil bei den Angebotskosten von Nord Stream 2 fehlt, würden die europäischen Gasverbraucher laut Prognosen um mehrere Milliarden Euro pro Jahr entlastet.
Ein Aus der Ostseepipeline hätte für Deutschland und Europa eines auf jeden Fall zur Folge: Ihre Produzenten müssten künftig auf preiswertere Energieversorgung verzichten und stattdessen weiterhin die weniger attraktiven Gaspreise akzeptieren, was die deutsche bzw. europäische Produktion nicht billiger und bestenfalls nicht konkurrenzfähiger machen würde. Dies könnte in Zukunft zu Verzögerungen bei Investitionen beitragen sowie die Exportgeschäfte der Bundesrepublik mit den USA und anderen wichtigen Handelspartnern erschweren, meinen Experten.
Doppelte Standards bei der Sanktionenspolitik
Dass die USA durch ihre aggressive Außenhandelspolitik und ihre ständigen Angriffen auf die deutsche Wirtschaft der europäischen Lokomotive schon längst Probleme bereiten, ist kein Geheimnis. Bereits 2015 hatten US-Behörden gegen Volkswagen, aufgrund falscher Angaben des Konzerns zu den Emissionswerten von Dieselautos, eine Milliardenstrafe verhängt. Außerdem hat Washington mehrfach gedroht, Zölle auf deutsche Autoimporte einzuführen, wenn Berlin keine Handelszugeständnisse macht.
Diese Haltung der Amerikaner hatte viele deutsche Unternehmen damals enorm verunsichert. Laut einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Kooperation mit seiner Beratungstochter IW Consult von 2018 hatte rund die Hälfte der Unternehmen in Deutschland bereits in Zeiten der „America first“-Politik eher eine Zuspitzung als eine Entspannung im Handelskonflikt mit den Vereinigten Staaten befürchtet.
Nach dem Machtwechsel im Weißen Haus 2021 hat sich dann herausgestellt, dass ein Ende der US-Handelskriege nicht in Sicht ist und dass – egal ob Trump oder Biden – eine harte Strategie in Bezug auf Europa für die USA essentiell und damit parteiübergreifend ist.
Die Süddeutsche Zeitung meldete im vergangenen Februar, die Sanktionspolitik der US-Regierung gegen Nord Stream 2 bewirkte laut einem Bericht des US-Außenministeriums an den Kongress, dass mindestens 18 europäische Unternehmen ihre Teilnahme an dem Energieprojekt beendet oder ihren Rückzug zugesichert haben. Unter den Firmen sind der Industriedienstleister Bilfinger aus Mannheim und der zur Münchener Rück gehörende Versicherer Munich Re Syndicate Limited.
Hinsichtlich der westlichen Unternehmen, die im Zusammenhang mit Nord Stream 2 Geschäfte mit Russland machen wollen, beklagt Außenminister Maas dem Tagesspiegel zufolge doppelte Standards der Amerikaner, auch wenn er sie namentlich nicht erwähnt: „Es gibt ja Länder, die von uns die Einstellung der Bauarbeiten verlangen, obwohl sie selber zur gleichen Zeit ihre Schweröltransporte oder -importe aus Russland erhöhen“.
In der Tat sind US-Unternehmen von den Russland-Sanktionen ausgeschlossen, wenn es um ihre eigenen Wirtschaftsinteressen geht. Der Tagesspiegel berichtete diesbezüglich unter Verweis auf ein Dokument aus der Wirtschaftsabteilung des Kanzleramts, dass US-Firmen unter anderem an der Errichtung und dem Betrieb eines Komplexes für „Liquid Natural Gas“ im Nordwesten Sibiriens beteiligt seien. Außerdem wird in dem Papier ein Projekt zur Förderung von Erdöl und Erdgas bei der Insel Sachalin unter Beteiligung von Exxon Neftegas Ltd., eine Tochterfirma von Exxon, genannt. Die Firma „General Electric“ betreibt demnach ein Joint Venture mit dem staatlichen russischen Energieunternehmen „InterRAO“ zur Produktion von Gasturbinen in dem Land, die Firma „Honeywell“ wiederum baut in Arsamas rund 500 Kilometer östlich von Moskau eine Fabrik für Transport und Analyse von Erdgas aus.
Darüber hinaus wächst das Volumen russischer Rohöllieferungen in die USA laut offiziellen US-Zahlen von Jahr zu Jahr, so dass Russland inzwischen der drittgrößte Öllieferant Amerikas ist. Der Anteil russischer Lieferung an der US-Ölnachfrage soll im vergangenen Jahrzehnt von 0,5 und ein Rekordwert von sieben Prozent angestiegen sein.
Allen Sanktionsdrohungen und doppelten Standards zum Trotz führen russische Rohrverleger ihre Arbeit in der Ostsee durch, um die letzten 80 Kilometer der Pipeline fertigzustellen. Es bleibt die Frage, ob die Biden-Administration nach ihrem Verzicht auf Sanktionen gegen deutsche Beteiligte des Großprojekts weiterhin alles Erdenkliche tun wird, um den Realisierung von Nord Stream 2 zu verhindern, oder ob sie offen einen Kompromiss sucht. Viel Zeit bleibt dafür nicht – bis September soll die Verlegung der Rohre abgeschlossen werden.
Von Alexander Männer erschienen auf EuroBRICS unter Creative Commons-Lizenz 4.0.