Andreas Zumach für die Online-Zeitung INFOsperber
Zu Beginn ihres Genfer Gipfeltreffens am Mittwochmittag schüttelten sich «Sleepy Joe» und «der Killer» die Hände und lächelten dabei sogar in die Kameras. Dann folgten dreieinhalb Stunden intensiver Gespräche – zwei davon unter vier Augen und Ohren zwischen Joe Biden und Wladimir Putin. Bei diesen Gesprächen wurden zumindest einige Grundvoraussetzungen geschaffen für eine künftig vielleicht wieder verbesserte Beziehung zwischen den USA und Russland.
Die kurzfristig konkreteste Massnahme ist die von Putin angekündigte Rückkehr des US-Botschafters nach Moskau sowie seines russischen Amtskollegen nach Washington. Die beiden Diplomaten waren im Februar nach Bidens Killer-Vorwurf an Putin und der Verhängung gegenseitiger Sanktionen abgezogen beziehungsweise ausgewiesen worden.
Suche nach Vereinbarungen
Mittelfristig bis längerfristig zu verbesserten Beziehungen beitragen könnten die von den beiden Präsidenten vereinbarten gemeinsamen Arbeitsgruppen zur Bearbeitung und Überwindung zentraler Konfliktpunkte. Mitarbeiter der beiden Aussenministerien sowie Militärs sollen sich über künftige Verhandlungen zur atomaren Rüstungskontrolle sowie über Massnahmen zur Cybersicherheit verständigen, um Cyberwar und Hacker-Attacken zumindest durch Vereinbarungen einzugrenzen. Dazu präsentierte Biden dem russischen Präsidenten nach eigener Darstellung gestern «eine Liste mit 16 besonders sensiblen Infrastruktureinrichtungen, die künftig grundsätzlich tabu sein sollten für Cyberangriffe», darunter etwa Wasser- und Stromleitungen sowie Atomkraftwerke.
Putin sprach sich in seiner Pressekonferenz zwar auch grundsätzlich für Vereinbarungen zur Cybersicherheit aus; er ging auf Bidens Liste aber nicht ein. Stattdessen widersprach er ausführlich allen westlichen Vorwürfen zu von russischem Territorium ausgehenden Cyberangriffen und Hackerattacken und siedelte deren Ursprung und Ausgangspunkte stattdessen «hauptsächlich in den USA, sowie in Grossbritannien und einigen lateinamerikanischen Ländern» an.
Freilassung von Inhaftierten?
Eine vereinbarte Arbeitsgruppe zwischen den Aussenministerien in Moskau und Washington soll sich auch um die Freilassung von inhaftierten Russen in den USA sowie von US-Amerikanern in Russland kümmern. Das alles sind mehr konkrete Ergebnisse, als im Vorfeld des Gipfels erwartet wurden. Biden sprach von Zeiträumen zwischen drei, sechs oder zwölf Monaten, nach denen man überprüfen müsse, ob die gemeinsamen Arbeitsgruppen Ergebnisse erbracht hätten, die zu der von seiner Administration angestrebten Wiederherstellung einer von Russland in den
letzten Jahren angeblich verletzten «strategischen Stabilität» führen würden.
Was genau Biden mit diesem Begriff meint, erläuterte er nicht. Angesprochen auf diese Zielsetzung Washingtons, erklärte Putin auf seiner Pressekonferenz, die «strategische Stabilität» sei in den letzten zwanzig Jahren in erster Linie von den USA gefährdet worden, angefangen mit der Aufkündigung des bilateralen Raketenabwehrvertrages ABM durch Präsident George Bush im Jahr 2002 bis hin zum Austritt der Trump-Administration aus dem INF-Mittelstreckenvertrag und dem Open-Skies-Abkommen über vertrauensbildende Massnahmen im Luftraum.
Sehr unterschiedliche Meinungen zur Ukraine
Beim Thema Ukrainekonflikt bekannten sich die beiden Präsidenten fast wortgleich dazu, den «mit dem Minsker Abkommen eingeschlagenen diplomatischen Weg zu einer Lösung» weiterverfolgen zu wollen. Hinter dieser Sprachregelung verbergen sich allerdings weiterhin sehr unterschiedliche Vorstellungen. Biden betonte ausdrücklich die «Unverletzlichkeit der Grenzen der Ukraine», ohne allerdings die Rückgabe der von Russland 2014 annektierten Krim an die Ukraine zu fordern. Putin ging auf diese Frage überhaupt nicht ein, sondern kritisierte stattdessen, die USA und andere westliche Länder hätten 2014 «den illegalen Sturz der Regierung in Kiew» betrieben. Die Frage eines Beitritts der Ukraine zur NATO sei zwar angesprochen worden, aber darüber gebe es nichts weiter zu diskutieren.
Am schärfsten klangen die Gegensätze zwischen den beiden Präsidenten zumindest auf ihren getrennten Pressekonferenzen beim Themenkomplex Menschenrechte und innerstaatliche Opposition. Biden rügte den Umgang der Regierung Putin mit dem inhaftierten Kremlkritiker Alexej Nawalny. Putin versuchte die Verurteilung und Inhaftierung damit zu rechtfertigen, dass dieser mit seiner Reise nach Deutschland eine Straftat begangen habe. Auf mehrfache Fragen der Journalisten nach der Menschenrechtssituation in Russland reagierte Putin unter anderem mit Hinweisen auf die Lage in den USA. Er verwies unter anderem darauf, dass dort im Januar 400 Anhänger von Bidens Vorgänger Donald Trump wegen einer «friedlichen Demonstration vor dem Kapitol verhaftet» worden seien. Biden wies derartige Vergleiche als lächerlich zurück. Er habe Putin zu verstehen gegeben, dass die USA Menschenrechtsverletzungen in Russland weiterhin anprangern würden. «Es geht nicht darum, Russland anzugreifen, wenn sie Menschenrechte verletzen.» Es gehe darum, «demokratische Werte zu verteidigen». Mehrfach pries Biden sich selbst und das amerikanische Volk als führende Vorkämpfer für die universell gültigen Menschenrechtsnormen an.
Sachlicher Austausch
Trotz aller sachlichen Kontroversen seien ihre Gespräche konstruktiv verlaufen, versicherten beide Präsidenten. Putin betonte, es habe keinerlei Feindseligkeit gegeben. Biden und er hätten eine gemeinsame Sprache gesprochen. Biden erklärte: «Der Ton des ganzen Treffens war gut, positiv. Es gab keine schrillen Aktionen. Wenn wir nicht gleicher Meinung waren, haben wir es gesagt, aber nicht in einer hitzigen Atmosphäre.» Auf die Frage nach seinem Killer-Vorwurf an den russischen Präsidenten versicherte Biden, dieser Vorwurf sei vom Tisch. Putin habe sich mit seinen Erklärungen zu dieser Äusserung zufriedengegeben. Umgekehrt werden Putin beziehungsweise die von seiner Regierung gelenkten Medien den US-Präsidenten künftig wohl nicht mehr als «Sleepy Joe» verspotten. Denn in Genf lobte der Kremlchef seinen zehn Jahre älteren Counterpart in Washington vor über 1.500 Journalisten aus aller Welt als «sehr konzentriert, erfahren, sehr ausgewogen, mit grossen Qualitäten und moralischen Werten» – Eigenschaften, über die der einst von Putin geschätzte Biden-Vorgänger Donald Trump nicht verfügte.
Für Befremden unter den Medienvertretern sorgten die unterschiedlichen Formate der beiden Pressekonferenz: Biden erteilte auf seiner Pressekonferenz ausnahmslos Journalisten von US-Medien das Wort, deren Namensliste ihm vorlag. Diese Journalisten stellten ihm nur Fragen zu dem von den USA und anderen westlichen Staaten kritisierten Verhalten Russlands und zu den Massnahmen, mit denen die Biden-Administration darauf reagieren wolle. Putins hingegen musste bei seiner für alle Gipfelberichterstatter offenen Pressekonferenz fast ausschliesslich auf harte, kritische Fragen westlicher Journalisten zu seiner Politik reagieren.