Ein Interview mit María de Quesada, Journalistin und Projektgründerin bei „Das gelbe Mädchen – Selbstmordberichte aus Liebe“ über die Verantwortung des Journalismus, über Suzid-Prävention und Nachahmungseffekt.
REHUNO: Wie ist dieses Projekt entstanden?
María de Quesada: Das Projekt ist aus meiner eigenen Erfahrung entstanden, ich habe im Alter von 15 Jahren versucht, mir das Leben zu nehmen. Es war ein Erlebnis, das im familiären Umfeld blieb und ich habe es viele Jahre lang mit niemandem geteilt.
Ich dachte sogar, ich hätte es vergessen, aber man vergißt so etwas nicht. Im Jahr 2017 und während einer Yogaweiterbildungsreise in die USA, hat ein Kollege seinen eigenen Selbstmordversuch aus der Jugend mit uns geteilt.
Damals habe ich gemerkt, wie etwas in mir erwachte, ich sah mich selbst in seiner Erzählung und wollte darüber sprechen. Ich wollte mich den anderen gegenüber öffnen, aber ich konnte nicht. Ich war nicht in der Lage, die Erfahrung in der Gruppe zu teilen, es lag mir nicht.
Schritt für Schritt, nicht sofort, es waren Jahre, habe ich nach einigen Monaten angenfangen, es mit meinem Partner zu teilen, der von nichts wußte, obwohl wir seit 15 Jahren zusammen sind und zwei gemeinsame Kinder haben. Ich habe es Freund:innen erzählt, die ich seit Jahrzehnten kannte, aber auch nichts davon wußten. Durch die Erzählungen haben ich angefangen, einige sehr tiefverwurzelte Dinge wahrzunehmen …
Ist Suizid ein Thema, über das du in deiner Arbeit als Journalistin reflektiert oder deine Meinung geäußert hast?
Als Journalistin hatte ich dieses Thema nicht behandelt oder gar wahrgenommen, weil uns während des Studiums mittgeteilt wurde, dass Selbstmord aufgrund des Nachahmungseffekts kein Thema für die Öffentlichkeit ist.
Ich hatte die Idee, meine Geschichte zu erzählen, aber auch die Geschichte anderer, schließlich ist meine Geschichte nur eine von vielen Selbstmordgeschichten, die unsichtbar und stigmatisiert bleiben, die viel Schuld und Scham ins Leben bringen.
Ich habe eine Pioniermöglichkeit gesehen, weil wir in Spanien eine erhöhte Selbstmordrate haben. Ich glaube, dass darüber zu sprechen, der erste Schritt in Richtung Besserung ist, verstecken hilft nicht. Ich habe die Webseite Das gelbe Mädchen im Juni 2020 während der Pandemie erstellt, mitten im Lockdown. Ich habe Berichte von vielen Menschen erhalten, die Ähnliches durchlebt haben: Selbtsmordversuche, Selbtsverletzungen, Selbstmordgedanken. Ich wollte ihre Geschichten aus einer liebevollen Perspektive erzählen, schließlich sind wir Menschen, die gelitten haben, aber auch dieses Leid überstanden haben. Wir können Andere ermutigen und motivieren, damit auch sie ihr Leid überstehen. So kam alles zustande.
Das Projekt folgt dem Buch „Das gelbe Mädchen“. Zuerst kam das Buch und dann der Verein.
Das Projekt fängt mit dem Buch „Das gelbe Mädchen“ an. Der Titel kommt aus einem Traum, den ich hatte, der in keinem Zusammenhang mit nichts steht. Es war einfach ein Traum über ein Buchdeckblatt und das gelbe Mädchen. So ist es entstanden. Das Buch wird im September 2021 veröffentlicht, pünktlich zum internationalen Tag der Selbstmordprävention am 10. September. Es Geschichten wie meine, die viel Leid hinter sich haben, aber es geschafft haben, daraus zu lernen und zu wachsen. Ich glaube, dass wenn du dich an dieser dunklen Stelle wiederfindest, viele Faktoren in in dir selbst betroffen sind, denn wir alle durchleben Licht und Schatten und aus der Dunkelheit heraus lernen wir, andere Perspektiven zu sehen. Unsere Erfahrungen sind bereichernd und es lohnt sich, sie zu teilen.
Ich möchte helfen, auch wenn es nur eine einzige Person ist, die ihre vergangene, heutige oder zukünftige Situation von einer anderen Perspektive aus betrachtet, von der Perspektive der Hoffnung, der Bewältigung und insbesondere, dass sie um Hilfe bitten kann. Dieses ist das übergeordnete Ziel hinter jeder einzelnen Geschichte.
Es ist sehr schwer, aus einem Ort voller Leid herauszukommen, wenn wir nicht um Hilfe bitten und unsere Situation nicht teilen. Wenn wir uns isolieren, wenn wir allein in unseren Gedanken verweilen, können wir in ein tiefes Loch fallen, aus dem es sehr schwer ist, wieder herauszukommen. Aufgrund des Buches entstand der Verein. Ich wusste nicht, dass es einen Verein hervorbringen würde, aber das Buch selbst hat mich dazu gebracht, ihn ins Leben zu rufen. Die Erträge müssen in allen Gesellschaftsbereichen wie Bildung, Soziales und Kommunikationsmedien zur Selbstmordprävention eingesetzt werden.
Wie wird das Thema Selbsmord derzeit in den Medien behandelt?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat während der letzten zwanzig Jahren empfohlen, dass in den Kommunikationsmedien durchaus über Selbstmord berichtet werden soll. Das erste Dokument diesbezüglich wurde im Jahr 2000 veröffentlicht.
Wir sind insofern voran gekommen, dass es einige Medien gibt, die offen ihre eigenen Verhaltensregeln für die Suizidberichterstattung aufgestellt haben, wie es zum Beispiel die Spanische Nachrichtenagentur EFE es getan hat. Aber es ist noch so, dass du die Nachrichten liest und trotzdem feststellt, dass es nicht genügt. Dann siehst du andere Berichte, die besser mit dem Thema umgehen, die die Kontaktdaten für Selbstmordhilfsstellen mitteilen, nicht die Suizidmethode veröffentlichen und respektvoll mit den betroffenen Familienmitgliedern umgehen, aber es ist immer noch ein langer Weg zu gehen.
Ich denke, dass diese Arbeit in den Vorbereitungslehrgängen für Journalismus und Kommunikation an den Universitäten anfangen muss. Es ist sehr schwer für uns Journalist:innen, richtig mit dem Thema Selbstmord umzugehen, wenn man uns das nicht beigebracht hat.
Von userem Projekt aus haben wir schon angefangen, Kontakte mit den Universitäten in Valencia zu knüpfen. Andere Organisationen wie Papageno (Berufsverband für die Suizidprävention und -postvention) haben ebenfalls angefangen, dieses Thema anzusprechen.
Was sind der Nachahmungs- und der Papagenoeffekt in den Kommunkationsmedien?
Als ich Journalismus studiert habe, hat man mit uns über den Nachahmungseffekt gesprochen, auch Werther-Effekt genannt. Das bedeutet, dass wenn wir in den Kommunikationsmedien von Selbstmord berichten, aber dabei die Empfehlungen der WHO nicht folgen, ein Nachahmungseffekt auftritt. Nach der Selbstmordberichterstattung einer berühmten Person hat es jedes Mal ein Nachahmungseffekt gegeben. Auf der anderen Seite, woran wir arbeiten und derzeit versuchen voranzutreiben, ist der Papagenoeffekt, genau das Gegenteil. In diesem Fall würden die Kommunikationsmedien rigurös, respektvoll und klaren Richtlinien folgend berichten. Wenn wir es richtig machen, werden Menschen ermutigt, um Hilfe zu bitten.
Das Wichtigste für mich in der Ausübung des Journalismus ist, dass wir verstehen, dass wir Präventiontsakteur:innen sind.
Vielen Dank María für deine Arbeit und für das Interview.
Anlaufstellen für suizidgefährdete Personen oder für Personen, die psychologische Hilfe suchen.
Deutschland:
TelefonSeelsorge Deutschland 0800.1110111, 0800.1110222 / https://online.telefonseelsorge.de/
Suizid – Hilfe für Jugendliche und junge Erwachsene https://www.irrsinnig-menschlich.de/hilfe/suizid/
Österreich:
Telefonseelsorge 142 (Notruf), 147 (Rat auf Draht) / http://rataufdraht.orf.at
Bleib bei uns: 01/4069595
Schweiz:
TelefonSeelsorge Schweiz: 0800 1110111
Die Dargebotene Hand: 143 / http://www.143.ch
Weltweit: https://faq.whatsapp.com/general/security-and-privacy/global-suicide-hotline-resources/?lang=de
Interview geführt von Diego Villagraz, Sterbeforscher und Sozialarbeiter, Übersetzung aus dem Spanischen von Nadia Miranda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige!