Der historische Sieg von Pedro Castillo als gewählten Präsidenten von Peru stärkt in geopolitischer Hinsicht den Flügel der progressiven und linksgerichteten Regierungen und die Maßnahmen der regionalen Eingliederung auf dem Kontinent in souveräner und solidarischer Art.
Abgesehen von der heftigen Gegenwehr, den die nationale und internationale Oligarchie lostreten wird, um diesen neuen emanzipatorischen Versuch zu blockieren, legt der Triumph des abgehängten Volkes eine Frostschicht über die Trumpfkarte der rechtsgerichteten Restauration, welche die Wahl des Bankiers Lasso in Ecuador verkörpert.
Während sich das an der institutionellen Oberfläche abspielt, beginnt die Mobilisierung des Volkes trotz der pandemischen Situation unaufhaltsam zuzunehmen und erreicht die wichtigsten Länder unter Anfechtung des vom Kapital angeordneten Modells der kompromisslosen Akkumulation.
Der heldenhafte Widerstand des kolumbianischen Streiks gegen eine verbrecherische Regierung, der überwältigende Sieg des chilenischen Aufbruchs bei den verfassungsgebenden Wahlen, die Lawine an Stimmen für einen äußerst unbekannten Dorflehrer in Peru, und der große Marsch, der im Gange ist, um den in den Wahlurnen ausgedrückten Willen zu verteidigen; die Mobilisierung in mehr als 170 brasilianischen Städten, in denen lautstark das Ende einer Militärregierung , gerade noch von einer närrischen Fassade verhüllt, gefordert wurde; die triumphale Rückkehr der indigenen Bauernbewegungen in die Regierung in Bolivien, sogar – ungeachtet ihrer wahltaktischen Definition aus regionaler geopolitischer Sicht – die bedeutende Rolle des Aufstandes der Einheimischen in Ecuador, sind alles Erscheinungen, die Teil dieser enormen Rebellion sind, die die Herzen der kaltherzigen Verteidiger des Status Quo erzittern lässt.
Was ist die Bedeutung dieses Szenarios? Passen der institutionelle Trend und die Politik der Straße in dieselbe Gleichung? Welches sind die Schnittpunkte, welches sind die Dissonanzen? Was ist vorauszusehen?
Die Indizien lassen eine Struktur erkennen
Die rasche, mehrmalige und tödliche Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus in der Region stellte einen äußerst schmerzhaften Dolch in einem Sozial– und Gesundheitsgefüge dar, das vom Neoliberalismus zerlegt und nur zum Teil von den fortschrittlichen Regierungen des erkämpften Jahrzehnts wieder zusammengesetzt wurde. Ein Jahrzehnt, in dem es kein Abbremsen gab, sondern das Model der Barbarei des rechten Flügels vertieft wurde, wie es in Kolumbien, Peru und Chile geschah.
Zu dem bereits bestehenden Elend und dem globalisierten Prekariat kamen Millionen lateinamerikanischer Familien ohne jede soziale Absicherung hinzu, mit nicht mehr Gegenwart als dem Teilen von Volksküchen, mit nicht mehr Zukunft als der Mühsal des täglichen Überlebens durch unwürdige Gelegenheitsjobs.
Zur gleichen Zeit steigerten das spekulative Bankwesen und die von ihm überwachten multinationalen Konzerne, insbesondere im Digital -und Hochtechnologiesektor, ihre Gewinne ins Unermessliche.
Es war nicht die Empörung über diese strukturellen Widersprüche, sondern die Reaktion auf die daraus abgeleiteten Maßnahmen, die den Massenaufstand auf der Straße auslösten. Die zufällig zusammentreffende Verschärfung der neoliberalen Politik war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Missbrauch aber offenbarte den Nutzen und der Funke entfachte das Pulverfass und forderte grundsätzliche Veränderungen.
Die Generationen-Komponente
Besonders betroffen von diesem Panorama der Ungleichheit und Zukunftslosigkeit sind die knapp 160 Millionen jungen Menschen, die in der Region leben. Im Rahmen einer Systemkrise von regulärer Beschäftigung werden die Straßen mit einer Flut junger Menschen überschwemmt, die, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in prekären Arbeitsverhältnissen leben.
Jenseits der Grundbedrohung ihrer Existenz spüren die unter 30-Jährigen – alle im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus geboren – den scharfen Widerspruch, die Welt zum Greifen nahe zu erleben und gleichzeitig in beklemmenden Situationen zu stecken, ohne irgendwohin fliehen zu können. Sie glauben nicht an die traditionell „sinnvollen“ Betätigungsmöglichkeiten, die ihnen eine zunehmend irrationale Welt der Erwachsenen bietet und suchen nach Alternativen, im Kleinen wie im Großen.
Junge Menschen sind ebenfalls bevorzugte Opfer von Diskriminierung und institutioneller Gewalt. Es reicht aus, jung zu sein, um als verdächtige Person zu gelten, eine verschärfte und äußerst lebensgefährliche Tatsache ist es, wenn man dunkelhäutig ist und in einem Randgebiet lebt.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie diejenigen sind, die in der vordersten Reihe der großen Rebellion stehen und sich dem einzigen entgegenstellen, was das dekadente System ihnen bieten kann: grausame und brutale Unterdrückung.
Der antipatriarchalische Aufstand
Während der Zeit der allgemeinen Mobilmachung sind die Aktionen der Frauen, vor allem der Jüngsten, von großer Bedeutung. Und kein Wunder. In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind sie die weiterhin am meisten Vernachlässigten, Benachteiligten und Vergewaltigten.
Die zerreißenden Spuren der Auferlegung des Glaubensbekenntnisses einer kolonialen Kirche bestehen in Lateinamerika immer noch. Die Degradierung der Frauen zum Objekt als bloße Fortpflanzungsmaschine und ihre Ausbeutung als Pflege- und Fürsorgearbeiterin hält noch immer an; archaische und vielfältige Arten von Gewalt wie die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Frauenmorde, Kinder – und Jugendschwangerschaften, bestehen unter vielen anderen nach wie vor.
Jedoch, in der allgemeinen Erschöpfung des Systems, in seinem Mangel an Antworten, haben die Frauen ebenfalls einen Riss gefunden, um den antipatriarchalischen Kampf entschlossen aufzunehmen. Die fortschrittliche und gleichzeitig schnelle Eroberung der Räume markiert eine historische Grenze ohne Umkehr: Die Revolutionen werden feministisch, egalitär, ohne einen Anflug von Geschlechterdiskriminierung sein oder es wird sie nicht geben.
Die systemische Krise
Durch das Fortschreiten der Nachrichtenübermittlung ist die Menschheit zu einer einzigen planetarischen Kultur geworden. Das „globale Dorf“, nach den Worten des kanadischen Soziologen Marshall Mc Luhan, ist nun zu einer greifbaren Wirklichkeit geworden. In einem vollkommen vernetzten System können kleine Schwankungen große Veränderungen hervorrufen, wie von dem Meteorologen Edward Lorenz andeutet, der in seinen Erläuterungen über das chaotische Verhalten instabiler Systeme auf die Fernwirkung des „Schmetterlingsfluges“ hinwies.
Der argentinische Humanist Silo (literarisches Pseudonym von Mario Luis Rodriguez Cobos) seinerseits, erwähnt in seinen Briefen an meine Freunde:
„In einem geschlossenen System kann nichts anderes als die Mechanik einer wachsenden allgemeinen Unordnung erwarten kann. Das Paradox des Systems lehrt uns, dass der Versuch, Ordnung in eine wachsende Unordnung zu bringen, die Unordnung beschleunigt wird. Es gibt keinen anderen Ausweg als die Revolutionierung des Systems, um es für die Vielfältigkeit der menschlichen Bedürfnisse und Ansprüche zu öffnen.“
Auf diese Weise beginnt man die Welt als Gesamtheit zu begreifen. Die Völker bemühen sich, ihre eigenen lokalen Demonstrationseffekte aus ihren dringenden Bedürfnissen heraus zu erzeugen, aber in dem Bewusstsein, dass die erzielten Auswirkungen darüber hinausgehen und die allgemeine historische Entwicklung positiv beeinflussen werden.
Die aktuellen lateinamerikanischen Rebellionen, die mit denen in anderen Teilen der Welt zusammenhängen, sind Teil dieser Suche nach neuen und vielfältigen Modellen für die Menschheit als Ganzes.
Mythische Rebellion
Unter dem sozialen Überbau wird ein mächtiger kultureller Untergrund sichtbar, der versucht, sich auszudrücken. Antike Mythen, die immer wieder den Kampf gegen kollektive Demütigung angeregt haben, fachen heute die verborgenen Feuer der Völker an.
Sogar unter dem Aushängeschild der mestizischen Demografie und im Korsett eurozentrischer Matrizen verschnürt, kämpft das historische Gedächtnis darum, fünfhundert Jahre Kolonialherrschaft, zweihundert Jahre eines importierten und ausgrenzenden Republikanismus und mehr als ein Jahrhundert suprematistischen Imperialismus zu verdrängen.
Die indo-amerikanischen und afrostämmigen Wurzeln, die versuchen, Habgier und Quälerei zu begraben, keimen heute mit unbezwingbarer Kraft auf, indem sie verwehrte Gerechtigkeit, Freiheit, Anerkennung, Wiedergutmachung und effektive Selbstbestimmung fordern, um sich für ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Sie fordert vor allem den nötigen Raum, um den Platz in der globalen multikulturellen Verflechtung einzunehmen, die bereits beginnt Gestalt anzunehmen.
In der gegenwärtigen Rebellion werden die elementaren Voraussetzungen fiktiver Grenzen und aufgezwungener Umstände beseitigt, um Platz zu schaffen für einen neuen interkulturellen Dialog, der auf den Traum einer zukünftigen universellen menschlichen Nation abzielt.
Das Ende der Unsicherheit
Jetzt gibt es die Möglichkeit, die Zeit der Unsicherheit hinter sich zu lassen. Die Zukunft, wenn auch in ihren grundlegenden Umrissen, lässt bereits einige ihrer markantesten Konturen erkennen.
Die feste Verankerung neuer Grundwerte beginnt sich im Bewusstsein breiter Bereiche der Gesellschaft zu vollziehen.
Partizipative Demokratie als Ersatz für mangelnde Repräsentativität, Gleichstellung der Geschlechter, die Notwendigkeit für ein existenzsicherndes bedingungsloses Grundeinkommen zur Sicherung der Existenz zusammen mit einer neuen und gerechten Umverteilung des Sozialprodukts; Plurinationalität anstelle von Vorherrschaft und Rassismus, Sorge um das gemeinsame Haus anstatt der Sinnlosigkeit von übermäßigem Konsumverhalten, Wahlfreiheit und Vielfalt anstatt starrem Monolithismus, Dezentralisierung und die Auflösung von Monopolen sind alles Teile eines neuen Gemeinsinns.
Der uneingeschränkte Einsatz von Wissenschaft und Technik zum alleinigen Nutzen der gesamten Menschheit, nukleare Abrüstung, die uneingeschränkte Gültigkeit der Menschenrechte, Achtung der Selbstbestimmung der Völker, Solidarität und Zusammenarbeit als Leitprinzip der Beziehungen zwischen den Nationen, die Ablehnung von Gewalt und Diskriminierung als Lebensgrundsatz, sind einige der Hauptbestandteile des neuen humanistischen Wertevertrages, der sich in der Entstehung befindet.
Ein Vertrag, der die Spezies in einen neuen Kreislauf evolutionärer Entwicklung versetzt. Die Aufgabe besteht darin, die Umgestaltungen an diese wachsende Sensibilität anzupassen.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!