Daniela Gschweng für die Online-Zeitung INFOsperber
Wer keine Wohnung hat, bekommt eine. Bedingungslos. Das ist, in kurzen Worten, der Ansatz von «Housing First». Seit 2008 ist dieser Ansatz Finnlands offizielle Strategie gegen Obdachlosigkeit – und ein Erfolg. Die Zahl der Wohnungslosen sank 2020 das achte Jahr in Folge.
Damit konnte Finnland als einziges europäisches Land die Obdachlosigkeit in den letzten Jahren senken. Ende 2020 zählte Finnland 4341 Wohnungslose, 259 weniger als im Jahr davor und 539 weniger als 2018. Ende der 1980er-Jahre waren es noch 17’000 gewesen. 2019 gab es dazu erstmals unter 1000 Obdachlose unter 25 Jahren.
Der Grundgedanke: Bedingungslosigkeit
Etwa vier von fünf Teilnehmenden an «Housing First» behielten ihre Wohnung, vom restlichen Fünftel zogen einige zu Freunden und Verwandten, die anderen schafften es nicht, die Miete zu bezahlen. Wer auszieht, kann sich aber jederzeit wieder für das Programm anmelden.
Die Y-Foundation, die seit den 1980er-Jahren «Housing First»-Projekte durchführt, hat dafür Wohnungen gemietet, gekauft oder selbst gebaut. Die Nichtregierungsorganisation bekam dafür günstige Kredite vom Staat, unterstützt wird sie auch von der finnischen Lotterie. Reduzieren konnte Finnland dafür Hilfsangebote wie Notunterkünfte, von denen es aber noch immer genügend gibt, um Engpässe aufzufangen.
Langfristig günstiger als Nothilfe
Wer sich anmeldet, bekommt dauerhaft eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag, dazu umfassende Betreuung durch einen Sozialarbeiter, den der finnische Staat finanziert. In zehn Jahren hat «Housing First» so 270 Millionen Euro für Wohnungen ausgegeben.
Hinter «Housing First» steht ein Paradigmenwechsel in der Sozialarbeit. Das Ziel rückt von kurzfristigen Nothilfeangeboten weg, hin zu einer langfristigen Lösung, die jedem Bedürftigen Wohnraum und Beratung zur Verfügung stellt. Langfristig käme das günstiger als das frühere Modell, sagt Juha Kaakinen, CEO der Y-Foundation. Obdachlosigkeit verursache Kosten an vielen Stellen, die sich über die Jahre summieren.
Wer ohne Wohnung ist, beschäftigt Rettungsdienste, Justiz und Polizei weit mehr als ein Durchschnittsbürger. Wohnungslose leiden durch ihre Gesamtsituation auch weit häufiger unter Gesundheitsproblemen, wie mehrfach belegt ist. Pro obdachlose Person gebe der finnische Staat nun 15‘000 Euro weniger im Jahr aus als vor zehn Jahren, resümierte das Magazin «Kontrast» im vergangenen Jahr.
Das ist nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein moralischer Gewinn. Das finnische Modell deutet darauf hin, dass es in vielen Fällen nur am Zugang zu bezahlbaren Wohnungen fehlt. «Housing First» wirkt aber auf vielen verschiedenen Ebenen.
Es geht nicht nur um bezahlbaren Wohnraum
Die offensichtlichste Ebene: Der Kreislauf «keine Arbeit – keine Wohnung» wird durchbrochen. Die bedingungslose Erfüllung eines wichtigen Grundbedürfnisses ändere aber auch die Weise, wie Obdachlose sich selbst sehen, fand Csenge Földvári-Nagy, die in ihrer Dissertation die Unterschiede zwischen dem britischen und dem finnischen System untersucht hat. In England müssen sich Obdachlose für eine Wohnung erst qualifizieren, etwa durch einen Arbeitsplatz oder die Teilnahme an einem Suchtprogramm.
Die meisten von Földvári-Nagy befragten Engländer gaben strukturellen Problemen die Schuld an ihrer Situation. In Finnland dagegen führten die meisten Wohnungslosen ihre Situation auf individuelle Faktoren zurück, stellte die Sozialwissenschaftlerin fest.
Auch die öffentliche Wahrnehmung ändere sich. Die meisten Menschen empfinden Sympathie für Obdachlose. Je eher Obdachlosigkeit und extreme Armut aber öffentlich sichtbar seien, desto mehr distanzierten und fürchteten sich andere Menschen, fand Földvári-Nagy. Zum Beispiel vor Personen, denen man ansieht, dass ihre Situation grundlegende Körperpflege unmöglich macht. Mit anderen Worten: Wer bedürftig ist und eine Wohnung bekommt, dem wird auch in der Zukunft eher geholfen.
Auch in Finnland gibt es Hindernisse
«Housing First» hat in Finnland bisher mehrere Regierungswechsel überstanden. Auch andere Länder führen mittlerweile räumlich und zeitlich begrenzte Versuche durch. Leichter sei es deshalb aber nicht, sagt Kaakinen in einem Interview mit dem «Spiegel». Auch in Finnland wehrten sich Anwohner, wenn für Obdachlose gebaut werde, was jahrelange juristische Auseinandersetzungen nach sich ziehe. Daneben kämpfe er um die Finanzierung der begleitenden Sozialarbeit.
Diese ist ein wesentlicher Bestandteil des Programms. Wer sich nicht mehr täglich um einen Schlafplatz sorgen muss, hat Zeit, sich um seine Gesundheit zu kümmern, Suchtprobleme anzugehen, Anträge zu stellen. Zumindest theoretisch.
Hilfe beim Rückweg in die Gesellschaft
Wer länger wohnsitzlos ist, hat viele Fähigkeiten verlernt oder war schon vorher überfordert. Das Dasein der meisten Wohnungslosen kreist um die Grundbedürfnisse Essen, Schlafen und den täglichen Aufenthalt, alles andere hat daneben irgendwann keinen Raum mehr.
«Ich kann in vielen verschiedenen Sprachen betteln und jede Melodie spielen», erklärt Michelle Seddon. Die 43-Jährige hat nach 20 Jahren auf der Strasse in der Nähe von Manchester einen Housing-First-Platz in einem befristeten Projekt bekommen. Formulare ausfüllen und Steuerangelegenheiten verstehen, habe sie dagegen nie gelernt. Ihre Betreuerin helfe ihr bei vielem, von Steuerformularen über Termine für den Kredit bis zum Montieren von Gardinenstangen.
«Housing First» ist kein Wundermittel
Bis 2027 will die aktuelle Regierungschefin Finnlands die Obdachlosigkeit im Land endgültig beenden. Einfach wird das nicht, denn ein Wundermittel ist «Housing First» bei allem Erfolg nicht. Zwei Drittel aller Wohnungslosen in Finnland kommen laut Statistik zunächst bei Freunden oder Familienangehörigen unter. Bei länger Obdachlosen ist das immer weniger der Fall. Die Zahl derer, die auf der Strasse oder in Notunterkünften leben, ist seit der letzten Erfassung 2019 in Finnland auch nicht mehr gesunken, sondern leicht angestiegen – ein Zeichen dafür, dass «Housing First» nicht allen helfen kann.