Während das internationale Geflecht aus neoliberalen Verstrickungen, Abhängigkeiten und Ungleichheiten immer schwerer zu handhaben ist, beschwören wiedererstarkende Nationalismen die “Souveränität” als Allheilmittel.

Im “Osten”, etwa in Ungarn und Polen, wird diese rechte Utopie durch eine antikoloniale Rhetorik gegen “fremde Mächte” unterstützt, die jedwede kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und Kolonialität blockiert. Die Soziologin Kasia Narkowicz und der Geograph Zoltán Ginelli legen die Strategien der rechten Regierungen und das Versagen der linken Oppositionen offen:Im Mai 2021 kündigte der Europarat unter portugiesischer Präsidentschaft an, gegen Polen und Ungarn vorzugehen: wegen der anhaltenden Verletzung der europäischen Werte. Werte der Antidiskriminierung, insbesondere Rassismus und Antisemitismus, sagte Portugals Santos Silva, seien „eine Angelegenheit für uns alle.“ Er fügte dann hinzu, dass dies „eine notwendige Bedingung für unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union“ sei.

Den EU-Nachzüglern sind die Konditionen der Mitgliedschaft vertraut, da sie den Weg der osteuropäischen Staaten in den neoliberalen Kapitalismus in den letzten drei Jahrzehnten begleitet haben. Als zivilisatorische Karotte an den Grenzen des europäischen Kerns hängend, bedeutete die EU-Mitgliedschaft eine Annäherung an das westliche liberale Projekt und eine weitere Entfernung von “östlicher Rückständigkeit”.

Doch, wie Eszter Kováts in einem kürzlich erschienenen Artikel anmerkt, werden diese ohnehin schon vagen Werte nur dann aufrechterhalten, wenn sie in den Randgebieten der EU verletzt werden. Die langjährigen Mitglieder der EU, die Länder, die ihre europäische Zivilisation oder ihr Engagement für fortschrittliche Werte nicht unter Beweis stellen müssen, egal wie viele rassifizierte Körper an ihren Grenzen, in ihren Haftanstalten oder durch die Hände ihrer Polizei sterben, werden selten auf dieselbe Art und Weise diszipliniert.

Wenn dies die strukturellen Ungleichheiten der Europäischen Union widerspiegelt, sollten wir es nicht versäumen, “uns” bewusst zu machen, dass eben diese Ungleichheiten nicht zuletzt eine Konsolidierung der Rechten ermöglicht haben: Die beständig steigende Popularität des Rechtspopulismus sowohl in Ungarn als auch in Polen hat rechte Parolen über den “Widerstand gegen westliche Abhängigkeit” und “Kolonisierung” in den Mainstream gedrängt, während es in der Opposition an Auseinandersetzung mit dekolonialer Kritik, die es mit der rechten Vereinnahmung aufnehmen könnte, fehlt.

Koloniale und antikoloniale Diskurse

In Ungarn und Polen sind Kolonialität und Rasse eng mit der lokalen Geschichte der rassistischen Unterwerfung von Rom*nija und Jüd*innen verbunden. Im letzten Jahrzehnt haben sowohl Ungarn als auch Polen eine rechtskonservative, populistische Politik vorangetrieben, die sich zunehmend koloniale und antikoloniale Diskurse angeeignet hat, ohne sich mit ihrer eigenen Geschichte der rassistischen Ausgrenzung auseinanderzusetzen.

Seit 2012 konstruieren Ministerpräsident Viktor Orbán und regierungsnahe ungarische Politiker*innen einen “kolonialen Diskurs” gegen den Westen. Diese “Freiheitskämpfer*innen”-Position wurde in verschiedene historische Momente der kolonialen Unterwerfung eingewoben: 140 Jahre osmanische Herrschaft, gescheiterte Unabhängigkeitskriege (1703-11, 1848-49) gegen die habsburgische Unterjochung, die Revolutionen von 1956 und 1989 gegen die Sowjets und das “kommunistische” Regime. Brüssel wurde als kolonial und imperialistisch dargestellt, aber auch mit der “kommunistischen” Geschichte in Verbindung gebracht, wie die Äusserung “Brüssel ist das neue Moskau” beispielhaft zeigt. Diese Narrative wurden auch in Polen seit den Wahlen 2015 von Prawo i Sprawiedliwość (PiS) vorangetrieben und in ähnlicher Weise mit Polens prekärem Status in Europa verwoben, etwa in Bezug auf die Teilungen (1772-1918) und das “kommunistische” Regime von 1945-1989.

Die antikolonialen Argumente werden oft in einen breiteren Diskurs des “wir hatten nie Kolonien und sind daher frei von kolonialer Schuld” eingebettet. Wie Orbán erklärte: “Sie wollen uns Mitteleuropäern ihre eigene Logik aufzwingen, aber wir waren nie Kolonisatoren, wir haben keine solche moralische oder politische Verantwortung. Und nicht nur, dass wir keine Kolonien hatten, wir haben auch nie jemanden als Gastarbeiter oder aus einem anderen Grund zu uns geholt.”

Gleichzeitig üben beide Länder keine substanzielle Kritik am Kolonialismus. Zum Beispiel sagte Orbán zur europäischen Kolonialgeschichte: “Ich verurteile das nicht, in dieser historischen Epoche war es logisch”. Historisch gesehen waren die Ambitionen der kolonialen Expansion, die von der See- und Kolonialliga in Polen in der Zwischenkriegszeit vorangetrieben wurden, und die früheren Bestrebungen der Nationaldemokratie zur kolonialen Expansion nach Brasilien mit rassistisch exklusiven Narrativen durchdrungen. Heute halten beide Länder Verbindungen zur “europäischen Zivilisation” und “Westlichkeit” ohne koloniale und weisse Schuld durch einen “mitteleuropäischen” Exzeptionalismus aufrecht und grenzen damit die Region vom globalen Kolonialismus und dem postkolonialen Globalen Süden ab.

In Ungarn berufen sich rechtsgerichtete Publizisten wie Márton Békés auf Gramscis Hegemoniekritik und afrikanische postkoloniale Autor*innen. Damit ziehen sie eine imaginäre Trennlinie zwischen “Kolonisator”- und “Nicht-Kolonisator”-Ländern, die entlang des Eisernen Vorhangs verläuft und die geopolitischen Trennlinien des Kalten Krieges wiederherstellt.

In Polen erinnerte der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, kürzlich daran, dass Polen, als es sich für den Beitritt zur EU entschied, “nicht zugestimmt hat, die Kolonie von irgendjemandem zu sein”. Er sagte, dass die EU von Polen verlangt, ihre gesamte Kultur abzulehnen und versicherte, dass “wir unsere Identität, unsere Freiheit, Souveränität verteidigen werden”. Und er fügte hinzu, dass Polen nicht zulassen wird, dass es von der EU “terrorisiert” wird. Damit reagierte er auf eine Resolution des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2010, die den Empfang von EU-Geldern an gutes demokratisches Verhalten knüpft.

In einem anderen Beispiel und als Reaktion auf einen Vorschlag, das rituelle Schlachten von Tieren zu verbieten, hielt der rechte Publizist Rafał Ziemkiewicz mit antikolonialen Argumenten dagegen: “Imperiale Nationen wollen uns kolonialisieren. Man hat uns die Rolle einer idyllischen Kolonie gegeben, um uns zu provinzialisieren”. In Ungarn basierte die Schliessung der CEU (Central European University) 2018 und die politische Kampagne gegen George Soros ebenfalls auf Ideen einer ausländischen Bedrohung durch die “Globalisten”. In der Kritik stand insbesondere die “selbstkolonisierende” und “linksliberale Kompradorenelite”.

In beiden Beispielen überschneiden sich antikoloniale sowie rassistische, antisemitische und islamfeindliche Argumente sowohl auf der Rechten als auch bei der Opposition in Ungarn und Polen.

Antworten der politischen Opposition

Die politische Opposition spiegelt oft die von der Regierung geführten Diskurse der Kolonialität wider. Im Jahr 2017, während der Aufrüstung des Kernkraftwerks Paks in Ungarn, das mit russischen Krediten finanziert wird, konterte die ungarische Grüne Partei (LMP) das Projekt mit dem Argument: “Wir werden keine russische Kolonie werden” und “Russen geht nach Hause!”, wobei sie sich auch auf die Revolutionen von 1956 und 1989 bezogen.

Kürzlich, als Ungarn ein Abkommen zur Eröffnung eines Campus der chinesischen Fudan-Universität in Budapest unterzeichnete, der damit der erste chinesische Campus in der EU sein wird, rührte sich heftiger Widerstand. In der Hauptstadt kam es gar zu öffentlichen Protesten gegen die “chinesische Kolonisierung”. Der oppositionelle Budapester Bürgermeister benannte auch einige Strassen rund um den geplanten Campus um, etwa in “Uygurische Märtyrer”, “Freies Hongkong”, “Dalai Lama” und den chinesischen katholischen Kardinal “Xie Shiguang”.

Während der Hauptschwerpunkt der antikolonialen Kritik der Regierung und der Opposition der “Antikommunismus” und die “Unterstützung des Westens” sind, spiegeln diese Gefühle auch den breiteren kolonial-rassischen Diskurs der “gelben Bedrohung” (sárga veszedelem) wider. Ein Beispiel wäre dieses Plakat der Partei Párbeszéd Magyarországért (Dialog für Ungarn), das am 27. Mai 2021 auf Facebook veröffentlicht wurde. Der Text lautet: “Viktor, weisst du noch, was du 2012 gesagt hast? Dies: “Wir werden keine Kolonie sein!” Heute sind wir eine chinesische und russische Kolonie geworden. 2022: Wir holen uns das Land von euch zurück!”

In Ungarn reproduzieren Liberale und Konservative den nicht-kolonialen Exzeptionalismus, während Linke wenig kritische Reflexion über das lokale koloniale Erbe und die zeitgenössischen rassistischen Ausschlüsse anbieten. Der Mord an George Floyd in den USA löste eine auffällige osteuropäische Rezeption aus, die sich weitgehend in zwei unterschiedliche Diskurse aufteilte: Die westlich-zentrierte Mimikry von “Black Lives Matter”, wie etwa in “Roma Lives Matter”, oder die rechtsextreme und alt-rechte “All Lives Matter” und sogar “White Lives Matter”. Das linke Portal Új Egyenlőség (Neue Gleichheit), das von Zoltán Pogátsa geleitet wird, wirbt für das nordische sozialdemokratische Modell ohne sinnvolle Kritik am europäischen Rassismus und Kolonialismus und historisiert nur selten die ungarische Besonderheit. Dementsprechend bleibt die linke Kritik weitgehend eurozentrisch.

Die gesamte Opposition in Polen, deren Argumente praktisch nicht von denen der Rechten zu unterscheiden sind, lässt sich unter dem Label “linksliberal” fassen. Diese Liberal-Linke stärkt westlich zentrierte und oft rassistische Narrative, ohne sich mit Rassismus, Kolonialität oder dekolonialer Kritik auseinanderzusetzen.

Praktisch ununterscheidbar von der Rechten

Linke Kapitalismuskritik und jede Erwähnung des Sozialismus werden oft als naive Verherrlichung der Vergangenheit oder als politische Utopie abgetan, zu der niemand zurückkehren will. Der einzige Weg nach vorne, so die Leier, ist die westliche liberale Demokratie. In linken Kreisen in Polen, nicht zuletzt in Artikeln, die auf der Plattform Krytyka Polityczna (Politische Kritik) veröffentlicht werden, gibt es Polemiken zur Verteidigung des Liberalismus. So argumentierte ein Autor (auf Polnisch) vor ein paar Jahren auf dem Höhepunkt der Anti-Regierungsproteste: “Jede Schwächung der Beziehungen zum liberalen Westen bedeutet eine Verschiebung Polens nach Osten”, und das bedeute, “Polen an die politische Peripherie zu drängen, aus dem zentralen Spiel herauszufallen, das auch dann lohnend erscheint, wenn es in der Krise ist”.

Kürzlich haben prominente polnische Feministinnen, darunter Magdalena Środa, während eines Facebook-Webinars, das von Stowarzyszenie Kongres Kobiet (Frauenkongress) zur Feier des zwei Jahrzehnte zurückliegenden Erscheinens von Agnieszka Graffs wichtigem Buch “Świat bez kobiet” (“Eine Welt ohne Frauen”) organisiert wurde, alle zivilisatorischen Gemeinplätze der linksliberalen Opposition in Osteuropa bestätigt : Kampf der Kulturen, polnische Rückständigkeit, Aufholbedarf und eine lineare Fortschrittsvorstellung ohne jede Kritik am Westen.

Obwohl liberale feministische Wissenschaftlerinnen zu Recht darauf hingewiesen haben, dass der von der Rechten verwendete antikoloniale Rahmen den illiberalen Populismus ermächtigt, da er als Metapher für die westliche Arroganz dient, wird dies von der Linken in der Regel als eine unangebrachte Gleichsetzung des Kampfes der Gleichstellung der Geschlechter mit Kolonisierung abgetan. Damit übersehen die oppositionellen Akteur*innen legitime Kritiken, die aus einer antikolonialen/dekolonialen Perspektive an westlicher Dominanz – jenseits dessen, was sich die rechten Akteure aneignen – virulent sind.

Letztlich marginalisiert dies alle Versuche einer dekolonialen Kritik und lässt die Opposition in einer Position des müden Fahnenschwenkens verharren, die das europäische liberale Projekt auf Gleichheit, Freiheit und Ungebundenheit reduziert, während sie seine lange (koloniale) Gewalt und neoliberale rassistische und geschlechtsspezifische Ausbeutung ignoriert. Die begrenzte Auseinandersetzung mit Rasse und Rassismus sowohl in Polen als auch in Ungarn bietet daher wenig, um das rechte rassistische Narrativ herauszufordern, das sich selbst als “anti-/dekolonial” verkauft. Tatsächlich wird die koloniale Viktimisierung ebenso wie das liberale Konzept von Gender innerhalb der von der Regierung geführten “Kulturkriege” als “symbolischer Klebstoff” eingesetzt, um die weisse-suprematistische Rechte zu vereinen.

Kasia Narkowicz / Zoltán Ginelli
berlinergazette.de

Der Originalartikel kann hier besucht werden