Wenige Tage vor dem IPB World Peace Congress 2021 in Barcelona unterhalten wir uns mit Reiner Braun, Executive Director des Internationalen Friedensbüros (IPB) darüber, wie Friedensbewegung, Gewerkschaften und Umweltbewegung zusammenfinden können, warum wir einen Friedenskongress des Mutmachens und der Jugend brauchen, der komplett Hybrid von 15.-17. Oktober in Barcelona stattfindet, und warum es genau der richtige Moment dafür ist.
Reto Thumiger: Danke, dass du dir Zeit für ein Interview genommen hast, lieber Reiner.
Dein jahrzehntelanges unermüdliches Engagement für den Frieden hat dich zu einer bekannten Person in der Friedensbewegung gemacht. Da ich hoffe, dass viele Personen, die noch nicht friedensbewegt sind, dieses Interview lesen, bitte ich dich, dich kurz vorzustellen.
Reiner Braun: Ich habe gut 40 Jahre Friedensbewegung national und international mitgestalten dürfen, in ganz unterschiedlichen Verantwortungen: als Mitarbeiter beim Krefelder Appell in den 80er Jahren, als Geschäftsführer der Naturwissenschaftler Innen für den Frieden, später der IALANA (Juristinnen und Juristen gegen Atomwaffen) und der VDW (Vereinigung Deutscher Wissenschaftler). Die letzten Jahre war ich erst Präsident und bin dann bis heute Executive Director des IPB (Internationalen Friedensbüros). Was für mich immer besonders wichtig war und ist, ich bin in Kampagnen aktiv gewesen, gegen Atomwaffen, für den „Stopp der Air Base Ramstein“ und in der Kampagne „abrüsten statt aufrüsten“. Ich hatte das große Vergnügen, bei hunderten vielleicht sogar tausenden von kleinen Aktionen und Aktivitäten dabei zu sein, aber auch bei den großen Highlights; den Demonstrationen in Bonn, gegen den Irak-Krieg, bei Künstler für den Frieden aber auch bei den Aktionen des Weltsozialforums. Zusammenfassend kann man sagen, Frieden hat mein Leben maßgeblich geprägt, es waren bei allen Schwierigkeiten, Problemen und Kontroversen tolle Jahre mit wahnsinnig interessanten Menschen und viel Solidarität und Leidenschaft. Das ändert nichts an meiner Überzeugung, dass die aktuelle Situation nicht nur brandgefährlich, sondern auch tief deprimierend ist. Leben wir nicht möglicherweise in der Vorkriegszeit eines neuen großen Krieges mit Atomwaffen, der von dem indopazifischen Raum ausgeht?
Vorschläge, die Welt zu retten, haben wir genug
Der IPB Weltfrieden Kongress, der vom 15. – 17. Oktober in Barcelona stattfindet, schließt an den gleichnamigen Kongress an, der im Jahr 2016 in Berlin stattfand und sehr erfolgreich war. In den 5 Jahren ist viel passiert. Was sind diesmal die Schwerpunkte, welche Ziele und Hoffnungen verknüpfst du mit dem Kongress?
Die Welt steht an einer grundsätzlichen Weichenstellung: mit der Politik der Konfrontation und des Krieges in die soziale und ökologische Katastrophe zu rutschen oder den Ausweg zu finden, den ich als grundlegende sozial-ökologische Friedenstransformation beschreiben würde. Mithelfen, Auswege aus dieser Situation zu finden, das ist das große Ziel des IPB Weltkongresses. Es geht um die großen Herausforderungen unserer Zeit. Dabei geht es nicht um das 100. Strategiepapier – Vorschläge die Welt zu retten, haben wir genug. Es geht mehr um die Subjekte der Veränderungen sowie ihre Koalitionsbildungen und um mehr und international vernetzte Aktionen. Menschen gestalten Geschichte: dazu soll dieser Kongress beitragen und ermutigen. Wie können Friedensbewegung und Gewerkschaften, Umweltbewegung und Frieden zusammenfinden? Was sind neue Zugänge von neuen Aktiven von allen bei Fridays for Future zur Friedensbewegung, ohne diese zu instrumentalisieren und von ihren eigenen ursächlichen Anliegen abzulenken? Fragen des Kongresses, die dieser zusammen mit allen Engagierten in den verschiedenen Bewegungen Antworten näherbringen will.
Reale Internationalität und Diversität soll ihn prägen. Der Zukunfts- und vielleicht soll ich auch sagen „Kriegskontinent“ der zukünftigen noch größeren Kriege in Asien werden ihn thematisch prägen. Die Konfrontation der NATO mit Russland, Kleinwaffen und Lateinamerika, die Friedenkonsequenzen der Pandemie, aber auch Australien und die neuen Atom-U-Boote sind nur einige zentrale Punkte.
Wie kann der Traum einer friedlichen und gerechten Welt Realität werden?
Genderherausforderungen, die besondere Unterdrückung der indigenen Völker – Themen, die auch immer mit Krieg und Frieden zu tun haben.
Natürlich sind die Forderungen nach Abrüstung, einer Welt ohne Atomwaffen, nach friedlichen Konfliktlösungen und Friedenserziehung wichtige Bestandteile des Weltkongresses. Aber alles ist dem Gedanken des Liedes „Imagine“ von John Lennon untergeordnet: wie kann der Traum einer friedlichen und gerechten Welt Realität werden? Was können wir alle gemeinsam dafür tun, woher wir auch kommen, was wir auch denken, was unser Leben bisher auch immer geprägt hat? Wir müssen in mehr, größeren und internationalen Aktionen für die Zukunft zusammenfinden – die Lethargie, den Beobachter-Status verlassen.
Hier fließt wohl auch das Motto des Forums ein: „(Re)imagine our world: Action for Peace and Justice“ auf Deutsch etwa „Unsere Welt (neu) vorstellen: Aktion für Frieden und Gerechtigkeit“?
Ja dieses Motto soll erinnern, Visionen wachrufen und zum Handeln aufrufen: Du allein bist vielleicht zu schwach, wir gemeinsam können es schaffen. Es ist nicht vorprogrammiert, dass Konzerne und regierende Politik uns in den Abgrund treiben. Es ist daher auch ein Kongress des Mutmachens, ohne sich allerdings Illusionen zu machen, wie hart die Auseinandersetzungen sein werden und ein Kongress der Jugend. Wir haben nicht nur eigenständig gestaltete vielfältige Aktivitäten der IPB-Jugend auf dem Kongress, sondern auch 40% aller Referierenden sind unter 40.
Hybrid ist die Teilnahme bis zur letzten Minute möglich und Barcelona ist immer eine Reise wert
Die bisher 2400 online und offline registrierten Anmeldungen aus 114 Ländern machen Mut und Zuversicht, dass wir unseren Zielen mindestens nahekommen.
Alle Details des Programms, seine Vielfalt und Pluralität, seine Internationalität und seine Kompetenz können auf der Webseite eingesehen werden. Dort befinden sich auch genaue Beschreibungen der fast 50 Workshops, der Rahmenveranstaltungen, der Kulturereignisse und eine Einladung zu der MacBride Preisverleihung am Samstagabend. Es lohnt sich wirklich, sich dieses alles einmal anzuschauen und ich kann mir vorstellen, dass der Eine oder die Andere dann auch sagen: auch ich möchte gerne dabei sein. Hybrid ist das bis zur letzten Minute möglich. Barcelona ist immer eine Reise wert und sich online dazuzuschalten, bringt ganz sicher neue Erkenntnisse und vielleicht auch ein wenig neue Kraft für den Frieden
Ohne Überwindung des Kapitalismus erreichen wir weder Frieden noch globale und Klimagerechtigkeit
Wenn uns die letzten Jahre etwas gelehrt haben, dann, dass die großen Probleme, die großen Bedrohungen für die Menschheit, sehr komplex sind, miteinander in Verbindung stehen und einzelne Länder oder Regionen machtlos dagegen sind. Das heißt, wir brauchen zusammenhängende Lösungsansätze und internationale Kooperation. Was wir erleben, ist absurderweise das Gegenteil.
Das Denken in Komplexität, in Zusammenhängen, und ich würde ergänzen in Dialektik, ist leider oft zugunsten einer schwarz-weißen Vereinfachung und faktenresistenten Simplifizierung verloren gegangen. Politisch wird dieses Vorgehen auch bewusst eingesetzt, um die Dimension der Herausforderungen zu negieren und ein Weiter so mit sogenannten Reformen zu fordern. Was wir eigentlich brauchen ist eine – ich weiß, es ist aus der Mode gekommen, das Wort zu benutzen – ist eine Revolution: eine grundlegende und ich ergänze demokratisch partizipative Umgestaltung aller Herrschafts-, Macht- und Eigentumsverhältnisse inklusive eines völlig neuen Verhältnisses zur Natur. Es klingt jetzt schlagwortartig, aber so sind Interviews: ohne die Überwindung des Kapitalismus werden wir weder Frieden noch globale und Klimagerechtigkeit erreichen. Dies hat für den Frieden 1914 schon Jean Jaures einzigartig formuliert, wenn er betonte, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt, wie die Wolke den Regen. Die Klimaherausforderung werden wir nicht lösen, ohne die Wachstumsideologie auf den Prüfstand zu stellen. Dies widerspricht fundamental den kapitalistischen Akkumulationsnotwendigkeiten und Profitinteressen und keiner sollte glauben, dass wir globale!! Gerechtigkeit haben können, ohne gegen die Grundfesten von Konzernmacht und Ausbeutung anzugehen.
„Ich bin überzeugt, dass die Veränderungen viel tiefer, fundamentaler, grundsätzlicher sein müssen und werden.“
Was wir also jetzt und sofort brauchen, ist Kooperation, eine Politik der gemeinsamen Sicherheit – dies ist die Kampfansage an Biden und die NATO – denn nur dann können wir Wege zur Gestaltung einer friedlichen, ökologischen Zukunft öffnen.
Ich persönlich bin aber zutiefst überzeugt, dass die Veränderungen viel tiefer, fundamentaler, grundsätzlicher sein müssen und werden. Die Diskussion darüber ist sicher absolut notwendig, aber sie darf uns nicht abhalten, dringend notwendige erste Schritte, Maßnahmen und Aktionen gemeinsam zu gehen, vor allen mit den vielen, die meine Position nicht teilen. Eine Diskussion ohne Ausgrenzung und Tabus, aber mit viel Verständnis für den anderen ist notwendig, wenn wir eine grundlegende Umgestaltung partizipativ erreichen wollen und damit den Frieden sicherer machen.
Wir müssen ganz schnell und solidarisch die durch die Coronakrise aufgetretene Vereinzelung zugunsten solidarischer Aktionen überwinden.
In Europa sehen wir einem möglichen Ende der Pandemie entgegen, während andere Teile der Welt noch mittendrin sind. Ist das der richtige Moment für einen internationalen Friedenskongress?
Wir wissen ziemlich genau, wie groß die Herausforderungen für diesen Kongress unter Corona-Bedingungen in der ganzen Zeit der Vorbereitung waren. Ich will es aber deutlich sagen: es gibt keine bessere Zeit, nicht nur weil ein solcher Weltkongress politisch absolut notwendig ist. Der wesentlichere Grund ist, wir müssen dringend, ganz schnell und solidarisch, die durch die Coronakrise aufgetretene Vereinzelung zugunsten solidarischer Aktionen überwinden. Wir müssen zurück auf die Straßen und Plätze. Digital sind wir zusammengerückt, jetzt muss das auch stärker politisch sichtbar werden. Es gibt nach 18 Monaten Pandemieeindämmung ein wirklich riesiges Interesse, sich zu treffen, sich auszutauschen, ja auch sich einmal wieder in den Arm zu nehmen und zu begrüßen. Diese Empathie brauchen wir. Ich hoffe, sie überträgt sich ein wenig auf all jene, die online teilnehmen werden. Wir brauchen eine Atmosphäre des neuen Aufbruchs und ich hoffe, der Kongress trägt dazu bei.
Lula, Vandana Shiva, Jeremy Corbyn, Beatrice Finn und viele mehr …
Der Kongress ist sicher in seiner vielfältigen hybriden Form ein Experiment, aber ein sinnvolles und Hoffnung stimmend. Ich bin ziemlich davon überzeugt, dass hybride Formate das Konzept der Zukunft sein werden. Sie ermöglichen eine umfassende internationale Vernetzung.
Einige große Namen sind im Programm angekündigt. Wen erwartet ihr persönlich oder per Videoschalte?
Alle im Programm angekündigten „Prominenten“ werden entweder hybrid wie Präsident a.D. Lula oder Vandana Shiva anwesend sein, andere wie Jeremy Corbyn oder Beatrice Finn werden wir vor Ort begrüßen können. Die zentralen SprecherInnen der Plenarbeiträge am Samstag und Sonntag werden anwesend sein. Bei den Workshops wird es geteilt sein. Hochinteressante wie der zu AUKUS werden online, die Workshops zu Atomwaffen oder gemeinsamen Sicherheit in Präsenz/hybrid stattfinden.
Es wird sicher genug Möglichkeiten zum Austausch und zur Diskussion geben. Nicht zu vergessen die öffentliche Kundgebung mit allen Teilnehmerinnen der Eröffnungsveranstaltung, bei der wir mit den Handys das Friedenszeichen bilden werden.
Für grundlegende Veränderungen braucht es nicht nur herausragende Persönlichkeiten, sondern wir alle sind gefordert. Warum soll ein:e Aktivist:in, deren Aktivitäten nicht auf Frieden fokussiert sind oder eine Person, die nicht sozial oder politisch aktiv ist, an dem Kongress teilnehmen?
Schon bei der Anmeldung zum Kongress haben wir die Diversität der Teilnehmerinnen bemerkt. Divers, weil sie wirklich aus den unterschiedlichen Teilen der Welt kommen, divers aber auch ihr Engagement. Sie alle verbinden Grundgedanken der großen sozial- ökologischen Friedenstransformation. Frieden ist ohne globale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit undenkbar und Klimagerechtigkeit ohne ein Ende von Kriegen und bewaffneten Konflikten wird es nicht geben. Es handelt sich um zwei Seiten einer Medaille. Diese Gedanken wollen wir vertiefen und stärker aktionsfähig machen. Wir wollen verdeutlichen, dass Naturverhältnisse auch immer Herrschafts- und Machtverhältnisse sind, die im und für den Frieden überwunden bzw. demokratisiert und partizipativ gestaltet werden müssen.
Wie sind die Teilnahmemöglichkeiten (vor Ort und online), welche Sprachen werden unterstützt? Und vor allem, welche Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme gibt es?
Eigenständig gestalten ist die Herausforderung für die Online-Gestaltung. Wir haben uns dafür ein technisches System zugelegt, dass individuellen Gesprächsaustausch, die Entwicklung von kleinen Gruppen, das Vorstellen von Plakaten und Dokumenten, aber auch einen individuellen Austausch ermöglicht. Das ist sicher nicht das, was die TeilnehmerInnen vor Ort erleben werden – auch und gerade neben dem offiziellen Programm, aber es schafft viel Raum für Kommunikation. Sprachen werden im Wesentlichen Englisch sowie Katalanisch und Spanisch sein. Aber im Zweifelsfall kann Frau und Mann sich auch mit Händen und Füßen verständigen.
Der Kongress selbst ist ein kommunikatives Netzwerktreffen und alle werden mit vielen neuen Eindrücken und Erlebnissen nach Hause fahren – da bin ich mir ganz sicher.
Ich bin kein „passives Opferlamm“ von anderen
Nun zum Schluss noch eine persönliche Frage an dich. Wie schaffst du es, dein Engagement und deine Zuversicht in dieser Zeit aufrechtzuerhalten? Was macht dir Hoffnung?
Zuversicht und Optimismus kommen aus meiner tiefen Überzeugung, dass Menschen Geschichte schreiben und Geschichte durch das Handeln von Menschen beeinflussbar, ja bestimmt ist. Daran möchte ich mitwirken und kein „passives Opferlamm“ von anderen sein. Ich fühle mich als Teil einer weltweiten Solidargemeinschaft – die darf sich auch einmal streiten -, die diese bessere, friedliche und gerechte Welt erreichen will. Ich habe in meinem Leben bei den vielfältigen Aktionen so viel Solidarität und Gemeinsamkeit erfahren, viele Menschen kennen gelernt, die unter schwierigsten Bedingungen aufrecht gegangen sind – das hat mich beeinflusst und auch geprägt.
Dieses Solidaritätsgefühl, dieses Verständnis einer Gemeinschaft ähnlich Denkender und Handelnder macht Rückschläge und auch schmerzhafte politische Niederlagen nicht einfach, aber erträglicher, es gibt auch in Zeiten großer Schwierigkeiten und Verunsicherung Hoffnung und einen Kompass für die Zukunft.
Ich kann es auch einfach nicht lassen, Aufgeben ist keine Option, da ich mich nicht selber aufgeben kann und will. Würde – gerade in Schwierigkeiten, Konflikten und Niederlage – habe ich immer bewundert und sie macht Erfolge umso wertvoller.
Kapitalismus ist für mich nicht das Ende der Geschichte. Gegenüber Milliarden anderer Menschen auf diesem Planeten bin ich immer noch in einer privilegierten Situation und ich möchte gern ein bisschen von dem abgeben und dazu beitragen, dass auch andere besser leben und die Umwelt erhalten bleibt. Frieden mit der Natur ist auch eine persönliche Herausforderung.
Was könnte ich Besseres tun, als mit vielen gemeinsam für ein besseres Leben, für Gerechtigkeit und Frieden zu wirken? Das macht auch mich glücklich.
Hier geht es zur Registrierung: https://www.ipb2021.barcelona/register/
Pressenza führt am Samstag, 16. Oktober von 11:30 – 12:00 Uhr einen Workshop über gewaltfreien Journalismus durch.
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