Der Kölner Publizist und „interventionistische Philosoph“, wie Werner Rügemer sich selbst bezeichnet, setzt sich seit Jahrzehnten kritisch mit der Privatisierung der Welt und den Raubzügen machtvoller Konzerne und Institutionen auseinander. Mit „Imperium EU. ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr“ widmet er sich der Lage der arbeitenden Klasse.
Die EU als militarisierte und tödliche „Reichtums-Festung“
In der Einleitung verweist der Autor auf die „Kollektive Selbsterblindung der Virologen und Epidemiologen“, die nicht sehen, oder nicht sehen wollen, dass vor allem Arme und Ausgebeutete durch Corona, aber auch durch die Maßnahmen gefährdet sind. Ausgerechnet der Finanzinvestor BlackRock bekam einen Beratungsauftrag für die Europäische Zentralbank (EZB) für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach Corona und für den „Green Deal“ der EU.
Wie die EU wurde, was sie heute ist
Mit scharfem Blick auf Klassenunterschiede und schreiende Ungerechtigkeiten seziert Werner Rügemer im ersten Teil des Buches die Entwicklung der systematischen Entrechtungen arbeitender Menschen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, unterlegt mit zahlreichen Anmerkungen und Literaturhinweisen. Dieses ArbeitsUnrecht ist für ihn „der wesentliche Grund für die politische Rechtsentwicklung“ (S. 31). In besonderem Maße werden Wanderarbeiter*innen, Geflüchtete und Frauen ausgebeutet, was von Unternehmen „mithilfe der ‚neuen Werte‘ wie ‚diversity‘, Förderung von AufsteigerInnen aus ethnischen und sonstigen Minderheiten“ (S. 34) tabuisiert würde.
Die EU als „geopolitische Reichtums-Festung“ beteilige sich „an den neuen US-geführten Kriegen“ (S. 45) und verletze elementare Menschenrechte, wenn sie den Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer „direkt oder indirekt organisiert“. Im Inneren errichte sie „Mauern der gated communities der Superreichen gegen die Armen“ (S. 46). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die NATO gegründet und als ihr „Zwillingsgeschöpf“ (S. 62) der Marshall-Plan eingeführt, mit dem die kriegszerstörte Wirtschaft wiederaufgebaut wurde. Der Autor beschreibt Zusammenhänge zwischen US-amerikanischem Einfluss, Militarisierung und Entrechtung von Arbeiter*innen und stellt die Rolle der „Gründungsväter Europas“ (97), Jean Monnet und Walter Hallstein, deutlich heraus.
Entrechtung und Konzernmacht
In EU-Verträgen und -Dokumenten würden weder die universellen Menschenrechte der Vereinten Nationen (UN) noch die Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vollständig berücksichtigt. Aber selbst dieses EU-Recht würde nicht eingehalten. Dabei sei „der EU-Vorbildstaat Deutschland“ (S. 109) führend, indem er beispielsweise Arbeitsrechte aus der EU-Sozialcharta nicht übernehme oder die Düngemittelrichtlinie nicht befolge.
„Die EU-Bürokratie agiert keineswegs souverän“, kritisiert Werner Rügemer. Lobbyverbände von Unternehmen, Beratungsfirmen und Kanzleien hielten „ein weltweites Netz der Selbstbedienung und Korruption für die High Society aufrecht“ (S. 117). Mit dem „Grünbuch – Ein modernes Arbeitsrecht für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ habe die EU 2006 „die bisherigen Formen der Prekarisierung zu einem Gesamtkonzept zusammengefasst“ (S. 147). Allerdings ist die Rolle der EU ambivalent; so fälle zum Beispiel der Europäische Gerichtshof durchaus auch Urteile zugunsten von Beschäftigten. Allerdings „geht es um Einzelrechte, nie um die Stärkung kollektiver Rechte, etwa von Gewerkschaften oder Betriebsräten“ (S. 158).
In der „Europäischen Säule sozialer Rechte“, die 2017 eingeführt wurde, fänden sich unbestimmte Begriffe wie „Chancengleichheit“ oder „soziale Inklusion“, Arbeitsbedingungen und Bezahlung sollten „fair“ oder „angemessen“ sein. Der Lobbyarbeit des Finanzinvestors BlackRock sei es gelungen, der Europäischen Kommission eine „Volksaktie“ zur privaten Altersvorsorge anzutragen. Dieses Finanzprodukt namens ETF (Exchange Traded Fund) solle von den Mitgliedsstaaten steuerlich subventioniert werden. Werner Rügemer beschreibt „acht EU-Institutionen zur Durchsetzung des ArbeitsUnrechts“ (S. 171). Er legt dar, wie der bereits 1957 eingeführte Europäische Sozialfonds (ESF) Vorhaben „außerhalb jeglicher menschenrechtlicher Arbeitsrechte“ (S. 174) finanziert und damit die Prekarisierung vorantreibt, ohne dass sich Gewerkschaften nennenswert wehren würden.
Soziale Kämpfe und gewerkschaftliche Organisierung
Auch im zweiten Teil des Buches überwiegen die Schilderungen von Ausbeutung und Entrechtung. Er ist nach Ländern bzw. Ländergruppen gegliedert und zeigt die jeweils spezifischen Ausprägungen des ArbeitsUnrechts. Deutschland habe sich seit 1990 „zum führenden ArbeitsUnrechts-Staat der EU“ (S. 210) entwickelt. Der EU-Beitrittskandidat Nordmazedonien ist bereits NATO-Mitglied und habe sich als Niedriglohnland „zum ‚Bangladesch‘ in der EU“ (S. 239) entwickelt. In Polen entstünden immer mehr Sonderwirtschaftszonen für Konzerne.
Das Wichtigste sind jedoch die hoffnungsvollen Ansätze von Gegenwehr. So gäbe es in Frankreich mit den Gelbwesten „die führenden Bewegungen gegen das Kapital-Europa“ (S. 216). In Spanien würde viel gestreikt, dabei spielten Frauen eine wichtige Rolle, und in den andalusischen Plastikmeeren kämpft die Gewerkschaft der Landarbeiter*innen mit Unterstützung der Berliner Interbrigadas. „Einer der wichtigsten Arbeitskämpfe“ (S. 274) wird von den Beschäftigten von Amazon geführt, die sich international gewerkschaftlich vernetzt haben.
Das Buch gibt erschütternde Einblicke in ein Thema, das in politischen Debatten viel zu wenig vorkommt. Aus manchen Formulierungen des Autors ist sein Ärger über die Ungerechtigkeiten herauszulesen. Mit der hier vorgelegten Fundgrube des Grauens und der Hoffnung macht er die Millionen Menschen sichtbar, die unter entwürdigenden und entrechtlichten Bedingungen und unter Einsatz ihres Körpers Tag für Tag dafür sorgen, dass soziale und technische Infrastrukturen errichtet werden und funktionieren und dass Waren produziert und vertrieben werden.
Werner Rügemer: Imperium EU. ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. PapyRossa Verlag, Köln 2020, 319 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-89438-726-6
Erstveröffentlichung bei graswurzel revolution am 29.09.2021