Wenn ich Leuten erzähle, dass ich an einem Artikel über Ableismus schreibe, fragen fast alle erstaunt nach und können nichts mit dem Wort anfangen. Dann erkläre ich, dass es darum geht, dass Menschen aufgrund einer „Behinderung“ (ein schwieriger Begriff) benachteiligt werden, weil Ability – verstanden als das Vorhandensein umfassender körperlich-geistig-seelischer Fähigkeiten – als gesellschaftliche Norm dominant ist und alle Lebenswelten prägt. Für die meisten scheint das ziemlich weit weg vom eigenen Alltag zu sein, dabei betrifft es viele, potenziell alle.
Fast 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen Schwerbehindertenausweis, aber sehr viel mehr sind in manchen Fähigkeiten mehr oder weniger eingeschränkt, ohne einen solchen Ausweis zu haben, denn für diesen ist ein „Grad der Behinderung“ von mindestens 50 Prozent erforderlich. Vor vielen Jahren sagte mir mal eine Arbeitskollegin, sie würde keinen Schwerbehindertenausweis beantragen und verzichte damit auch auf zusätzliche Urlaubstage, verbilligte Fahrkarten etc. Denn es seien in Deutschland schon einmal Menschen aufgrund ihrer Behinderung ermordet worden, sie wolle nicht solcherart registriert werden. Sie hatte Diabetes, eine verbreitete, aber nicht sichtbare Behinderung.
Manche leben schon frühzeitig oder von Geburt an mit Einschränkungen, bei anderen treten diese erst später auf. Eine dauerhafte oder vorübergehende Behinderung kann nach einem Unfall oder nach einer Erkrankung jede*n jederzeit treffen. Manche Anfallsleiden kommen und gehen. Spätestens beim Älterwerden, wenn die körperlichen Kräfte nachlassen und so manches, was bisher selbstverständlich war, nicht mehr so gut funktioniert, ist jede*r davon betroffen, dass in der Gesellschaft viel zu wenig Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse und Notwendigkeiten von Menschen mit Einschränkungen genommen wird. So genannte Behinderungen sind also – zumindest zu einem Teil – auch gesellschaftlich gemacht und Ergebnisse eines ableistischen, Menschen mit Einschränkungen ausgrenzenden sozialen und administrativen Umfelds.
Das geht auch mich an
Die Kolumne von Monty „Unsichtbare Beeinträchtigungen – Schwerhörigkeit“ (GWR 455, Januar 2021) hat mich berührt. Ich schreibe zu diesem Thema nicht sachlich-distanziert, frage mich ebenfalls, „wie oft ich denn anderen Menschen – mit oder ohne Beeinträchtigung – Unverständnis oder Ungeduld entgegen bringe“. Umgekehrt spüre ich am eigenen Leibe, was es bedeutet, wenn nach und nach meine eigenen Fähigkeiten nachlassen. Ich kann nicht mehr so schwere Sachen tragen, werde unbeweglicher, brauche eine Brille, Hörgeräte, Zahnersatz … Mein Alltag erinnert mich täglich daran, dass ich in einer Gesellschaft lebe, die es mir ermöglicht, diese nachlassenden Fähigkeiten zumindest teilweise auszugleichen (und mir vieles mehr gibt, was die meisten Menschen auf dieser Welt nicht haben) – allerdings nur, weil ich krankenversichert bin (was viele auch hierzulande nicht sind) und solange ich in der Lage bin, die erforderlichen Zuzahlungen zu leisten. So gilt beispielsweise das Sehen anscheinend nicht als Grundrecht, denn seit vielen Jahren müssen Brillen (mit wenigen Ausnahmen) komplett selbst bezahlt werden.
Für manches brauche ich Unterstützung. Früher habe ich anderen geholfen, beispielsweise beim Umzug ihre Waschmaschine zu tragen. Um manches bitte ich heute meinen Sohn. Keine*r kommt ganz allein durchs Leben – das Verhältnis von gegenseitiger Hilfe, Leistungsansprüchen und Markt wäre ein eigenes Thema. Mit seinem Satz „Wir müssen endlich raus aus dem Leistungsdenken“ hat Monty einen wichtigen und vielschichtigen Punkt angesprochen, denn Ableismus und individualisierende Leistungsgesellschaft sind eng verwoben.
Manchmal bleibe ich an Sätzen oder Wörtern hängen, die Fragen aufwerfen. So ging beispielsweise kürzlich ein Aufruf zur Beteiligung an einem Zine über eine Mailingliste: „Wir, das sind zwei weiße queere Menschen, die Lust haben, euch und was euch empowert und bewegt kennen zu lernen. Und ihr seid BIPoC, be_hindert, refugees, queer, FINTA, dick und was es noch so alles schönes gibt. Ihr seid nicht cis, hetero, able-bodied, weiß und ein Mann auf einmal (:“. Diese Umkehrung gesellschaftlicher Normen hat mich ähnlich irritiert, wie wenn ich in WG-Anzeigen lese, dass sich Leute als „able-bodied“ bezeichnen. Sie zeigen damit vielleicht, dass sie „ihre Privilegien gecheckt haben“, wie es so schön heißt. Die individuelle Selbstbefragung und Positionierung hat ja heute einen großen Stellenwert, aber führt sie auch zu kollektiver Selbstermächtigung? Im schönen Kurzfilm „Wo Darwin falsch lag und was das mit einem Prinz zu tun hat“ vom Kollektiv BonBon Stimmung (einfach auf youtube suchen) geht es um das Aufeinander-Angewiesen-Sein, um gegenseitige Hilfe, und darum, dass es besser wäre, von „temporarily able-bodied“ (TAB) zu sprechen.
Gesund und leistungsfähig?
„In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist“ ist einer der Sätze, die mich durch meine Kindheit begleitet haben. Damit wurde begründet, dass es wichtig sei, gesund zu essen und mit einer gesunden Lebensführung – frische Luft, Bewegung, kein Alkohol und keine Drogen – den „Naturgesetzen“ entsprechend zu leben. Damals klingelte öfter ein Mann im Rollstuhl an unserer Gartentür, und meine Eltern sprachen freundlich mit ihm, ohne ihn hereinzubitten. Er verkaufte Seife, und eines Tages schnappte ich auf, dass er deswegen im Rollstuhl sitze, weil er in einem früheren Leben „schlechtes Karma“ auf sich geladen hätte, indem er irgendein Unrecht begangen hatte. In dieser Überzeugung schien er sich mit meinen Eltern ganz einig zu sein.
In unserer Ökodorf-Gruppe Ende der 80er/Anfang der 90er (mehr dazu in der Serie „Träume und Versuche zu Wendezeiten“, GWR 443-445) war auch eine ältere Frau, die Asthma hatte. Bei einer Diskussion über Selbstversorgung sagte ein junger Mann ganz unverfroren zu ihr, dass sie ja wohl nicht für so ein Projekt geeignet sei, weil sie ja gar nicht mehr richtig mit anpacken könnte. Ich werde das nie vergessen, habe aber komplett verdrängt, ob ich oder irgendwer anderes darauf reagiert hat. Ich fürchte, wir haben alle betreten geschwiegen.
Zum „Come Together“-Gemeinschaftstreffen im Sommer 1994 in Groß-Chüden (Vorläuferprojekt des Ökodorfs Sieben Linden) kam ein Vertreter der INWO (Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung) aus der Schweiz und versuchte, uns für deren Komplementärwährung „Talente“ zu gewinnen. Mich schreckte schon der Name ab, denn Wirtschaft wird von Menschen gemacht und ist nicht „natürlich“. Talente hieß die Währung, weil jede*r das Talent hätte, anderen etwas zu geben, was dann mit dieser Währung verrechnet werden könnte. Auf meine Frage, was denn mit denen wäre, die zum Beispiel wegen einer Behinderung nicht so leistungsfähig seien, meinte er, wer im Rollstuhl sitze, könne ja immer noch Zeit anbieten und anderen zuhören, wenn sie Probleme hätten. Mich hat das nicht überzeugt, denn was ist, wenn eine*r sich das alles gar nicht anhören möchte? In der Kommunebewegung, und auch in manchen Ökodorf-Gruppen, waren wir da schon weiter mit Diskussionen um die Entkoppelung von Lohn und Leistung. Diese Talente kamen mir vor wie ein Ersatzgeld ohne Utopie, mit dem auch noch die letzten Lebensbereiche monetär verrechenbar gemacht werden sollten.
Zum Beispiel Sprache
Es gibt viele Barrieren, die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise einschränken und benachteiligen. Zum Beispiel sind Gehörlose in vielen Lebenssituationen darauf angewiesen, dass ihnen ein*e Gebärdendolmetscher*in zur Seite steht. Analphabet*innen können mündlich, aber nicht schriftlich kommunizieren. Eine immer größere Bedeutung hat in den letzten Jahren auch die Wortwahl erfahren, wobei ich nicht einschätzen kann, wie viele Leute außerhalb politischer Bewegungen und intellektueller Szenen wirklich Interesse an Diskussionen über Sprachwahl – beispielsweise ob es Flüchtlinge oder Geflüchtete heißen soll – oder über das Gendern haben.
Sprache ist überhaupt nicht egal, sondern steht in Wechselbeziehung zu gesellschaftlich dominanten Überzeugungen, Gewohnheiten und Machtverhältnissen. Insofern sehe ich einen zivilisatorischen Fortschritt darin, dass Frauen schon seit einigen Jahrzehnten, und andere Geschlechter seit einigen Jahren, aus der sprachlichen Unsichtbarkeit herausgetreten sind. Allerdings können rigide Sprachregelungen auch neue Barrieren bauen, wenn sie Leute verunsichern und verhindern, dass sie sich überhaupt noch trauen zu sprechen oder zu schreiben.
Schon das Gendern mit Binnen-I, Sternchen oder Unterstrich muss gelernt werden. Immerhin sind die Schriftzeichen eindeutig, ihr Einsatz allerdings nicht immer. Mit dem Doppelpunkt kann ich mich nicht anfreunden. Er hat in ein und demselben Text zwei unterschiedliche Bedeutungen, stammt – soweit ich das herausfinden konnte – nicht aus der queeren Community, und manche bevorzugen ihn wegen seiner Unauffälligkeit – ich schreibe lieber laut und sichtbar. Wirklich barrierefrei ist weder gegenderte Schrift – bei der es Probleme mit Sprachprogrammen, aber auch mit dem kognitiven Verständnis geben kann – noch das generische Maskulinum – mit dem nur ein Geschlecht angesprochen wird. Es gibt viele kluge Versuche, Kompromisse zu finden, aber viel zu oft scheint es schwer zu sein, fröhlich und kreativ damit zu experimentieren. Ob Gendern oder nicht, beides kann Stürme der Empörung hervorrufen, und wer beim älteren binären weiblich-männlichen Sprachgebrauch bleibt, riskiert, als transphob beschimpft zu werden.
In politischen Zusammenhängen, wo solche Streitereien ausgetragen werden, sind diejenigen benachteiligt, die nicht über elaborierte sprachliche Fähigkeiten verfügen. Insofern würde ich auch die in solchen Konflikten aufscheinende intellektuelle Überheblichkeit als ableistisch bezeichnen. Jedoch gibt es ebenfalls Ansätze in politischen Gruppen, Texte in einfacher Sprache zu verfassen, die von allen verstanden werden können. Der Deutschlandfunk bietet mit seinem Portal nachrichtenleicht.de Informationen in einfacher Sprache an. Der Name verwirrt, denn Leichte Sprache (als Eigenname groß geschrieben) ist etwas anderes. Sie richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten, hat eigene Regeln, und es gibt Übersetzer*innen dafür.
Mit Corona hat sich nicht nur die Empörungskultur verschärft, sondern auch die Ausgrenzung. Zum Beispiel beschneiden Masken die Kommunikation um wesentliche Teile, denn im persönlichen Kontakt zählen nicht nur die Worte, sondern ebenso die Mimik. Durch ihr Fehlen können Menschen, die psychisch beeinträchtigt sind, schwerwiegend verunsichert werden. Wer schlecht hört, ist auch für das rein inhaltliche Verstehen darauf angewiesen, die Mundbewegungen des Gegenübers zu sehen.
Technische Errungenschaften und Abgründe
Für diejenigen, die aufgrund angeborener oder erworbener Erkrankungen oder nach einem Unfall nicht sprechen können, gibt es ausgefeilte technische Hilfsmittel. Wem es nicht möglich ist, eine Tastatur zu bedienen, kann vielleicht mit Hilfe eines einfachen Kippschalters, einer Kopfmaus oder einer Augensteuerung einen PC oder eine Sprachausgabe bedienen. Jedoch braucht das Gegenüber Geduld, denn eine solche Kommunikation ist langsamer, als es Sprechende gewöhnt sind.
Auch Prothesen werden heute mit digitaler beziehungsweise bionischer Steuerung hergestellt, das heißt, sie werden so mit dem Körper verbunden, dass sie Nervenimpulse aufnehmen und Signale an das Nervensystem und damit ins Gehirn rückkoppeln können. Cochlea-Implantate können das Hören ermöglichen, Implantate für die Sehfähigkeit sind in der Erprobung, teils kombiniert mit Gentechnik. Sportler*innen mit Beinprothesen können schon höhere Leistungen erzielen als Nichtbehinderte. So hilfreich diese Hilfsmittel sind, kann doch der Ausgleich von Behinderungen zum Einfallstor für transhumanistische Ideen von Cyborgs mit übermenschlichen Fähigkeiten werden. Das geht in eine vollkommen andere Richtung als der Abbau ableistischer gesellschaftlicher Barrieren.
Das Bild vom allzeit leistungsfähigen, perfekten Menschen lässt keinen Raum für das Individuelle, sondern ähnelt eher einer Industrienorm, im Idealfall mit Null-Fehler-Toleranz. Die genetische Pränataldiagnostik zur Erkennung von Erbkrankheiten ist auch ein Schritt in diese Richtung. Statt ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem verschiedenste Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Einschränkungen gut leben können, bleibt es den Einzelnen überlassen, sich um ihr individuelles Funktionieren zu kümmern, ganz im Sinne der neoliberalen Eigenverantwortungs-Ideologie.
Dieser Druck, funktionieren zu müssen, lastet auf allen, ganz unabhängig von ihren Abilities. Allerdings gibt es verschiedene Arten von Betroffenheit und daraus sich ergebende unterschiedliche Notwendigkeiten. Die duale Zuschreibung – able: ja oder nein – verschleiert diese Vielfalt und folgt eher der technokratischen 0-1-0-1-Digitalwelt. Es wäre wahrscheinlich für alle befreiend, repressive Menschenbilder mit radikaler Subjektivität zu verjagen und auf Genuss und Lebensfreude statt Leistung zu setzen. Aber das ist leichter gesagt als getan.
Erstveröffentlichung bei Graswurzel Revolution am 26.10.2021