Der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands brachten auch für in Berlin lebende Menschen aus Lateinamerika viele Veränderungen mit sich. Um sich auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen, gründeten einige von ihnen Anfang 1992 den Xochicuicatl e.V. Was als Selbsthilfeprojekt begann, ist heute eine der wichtigsten Anlauf- und Beratungsstellen für Migrantinnen aus Lateinamerika in Deutschland.
Claudia Tribin, die Koordinatorin des Vereins, und Sophia Oelsner, die psychosoziale Beratung anbietet, berichten über die Schwerpunkte ihrer Arbeit und die Herausforderungen, mit denen sie durch die Corona-Pandemie konfrontiert wurden.
Wann wurde Xochicuicatl gegründet, und was war der Anlass?
Claudia Tribin: Der Verein wurde am 15. Januar 1992 gegründet. Für die Frauen war wichtig, einen Austausch über die aktuellen Ereignisse zu haben. Damals hatten wir hier in Berlin eine sehr spezielle Situation. Die Mauer war gerade gefallen, und es gab in Deutschland viele rassistische Übergriffe. Deshalb haben sich die Frauen entschieden, einen Verein zu gründen, um all diese Themen zu bearbeiten und auch andere Frauen zu unterstützen.
Sophia Oelsner: Es waren ja wenige Frauen, keine so große Gruppe. Wenn ich mich richtig entsinne, waren es zehn Frauen aus unterschiedlichen Ländern. Auch eine Mexikanerin war dabei. Und damals haben sie auch den Namen Xochicuicatl gewählt. Das kommt aus dem Náhuatl, aus Mexiko und bedeutet „Gesang der Blume“, denn es war ein bisschen die Idee, unsere Kultur hier wiederzubeleben. Ich glaube, dass den Kolleginnen damals nicht bewusst war, was dann später alles dabei herauskommen sollte.
Lag am Anfang der Fokus dann eher auf dem kulturellen Austausch? Heute gibt es ja ganz vielfältige Beratungsangebote und Projekte. Seit wann haben Sie so ein breites Angebot?
Claudia Tribin:Von Anfang an. Es war immer eine Mischung. Es gab ein großes Bedürfnis, über diese Themen zu sprechen: Wer sind wir? Was machen wir hier? Was unterscheidet uns von den anderen? Und welche Probleme haben wir? Und als all die Frauen die hier leben, kamen, wurde ganz schnell klar, dass Deutschkurse benötigt werden, aber auch Informationen über die behördliche Anmeldung und ähnliches.
Sophia Oelsner: Die Kolleginnen haben damals Kontakt zur Senatsverwaltung gesucht. Wir sind eine richtige Institution, die transparent arbeitet und schaut, wie man Frauen rund um das Thema Migration mit guten Informationen unterstützt, berät und begleitet.
Wer sind denn eigentlich die Frauen, die herkommen und eine Ansprechpartnerin suchen?
Sophia Oelsner: Das ist unterschiedlich. Zu uns kommen Frauen, die erst vor einer Woche nach Berlin bzw. nach Deutschland gekommen sind, andere leben schon ein Jahr hier oder zwei. Es kommen aber auch Frauen, die nach zwanzig Jahren, wenn die Kinder aus dem Haus sind, in ein Loch fallen und gar nicht wissen, wohin mit sich. Und die suchen uns dann auf. Also, je nachdem in welcher Lebensphase sie sich befinden, suchen sie die Beratung und Unterstützung. Und es gibt auch viele Frauen, die aus diversen Gründen immer noch nicht so gut Deutsch sprechen, so dass wir auf einer anderen Vertrauensbasis Informationen an sie herantragen können.
Welche Art der Beratung bieten Sie heute konkret an?
Sophia Oelsner: Wie gesagt, ein Großteil ist die Erstberatung. Das ist so eine Art Allgemeinberatung, die „Basics“. Die wird sehr viel nachgefragt. Und dann gibt es weitere soziale Beratung, alles was mit sozialen Systemen zu tun hat. Aber es gibt auch eine juristische Beratung. Das beinhaltet die ganzen Themen wie Visum, Asyl teilweise auch, aber auch Scheidung, Umgangsrecht und so weiter. Das ist leider ein Thema, das wir sehr viel haben. Und dann gibt’s natürlich die Berufsberatung. Viele Frauen wollen wissen, wie sie einen Lebenslauf oder eine Bewerbung schreiben sollen. Oder sie suchen Arbeit und wissen nicht, wie das in Deutschland funktioniert. Da haben wir auch Leute, die die Frauen unterstützen. Und dann gibt es die Familienberatung. Oftmals werden Familien direkt vom Jugendamt oder vom Gericht zu uns geschickt. Wenn die Eltern nicht mehr miteinander kommunizieren, unterstützen wir, so lange noch kleine Kinder da sind.
Auf Ihrer Website ist zu lesen, dass jetzt auch Beratungen per Telefon und per Email angeboten werden. Ist das eine Reaktion auf die Corona-Pandemie? Und wie hat sich Ihre Arbeit dadurch verändert?
Sophia Oelsner: Auf jeden Fall hat das mit der Pandemie zu tun. Die war der Hauptgrund. Zum einen haben wir von unserem Geldgeber die Message bekommen, dass wir uns und unsere Mitmenschen schützen sollen. Deshalb haben wir wie die meisten Projekte nicht mehr persönlich beraten. Wir wussten aber genau, dass wir nicht einfach zumachen können, und so kam es, dass wir seit über einem Jahr hauptsächlich per Telefon, Mail und Video-Chat beraten. Und klar, mittlerweile, wenn es ganz, ganz schwierige Situationen sind, dann wird auch ein persönlicher Termin gemacht. Aber das ist sehr selten der Fall. Die Corona-Pandemie hatte ansonsten definitiv Auswirkungen auf das Thema Häusliche Gewalt. Es ist deutlich zu merken, dass die Pandemie es mit den meisten Familien nicht gut gemeint hat. Ich denke, die Familien waren überfordert, und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen durch das Thema Schule. Teilweise können sie selber die Sprache nicht gut, und dann sollen sie noch bei den Schulaufgaben helfen. Und ich denke, den ganzen Tag mit der ganzen Familie in der Wohnung zu sitzen war eine Extremsituation für viele Familien.
Und dann haben viele noch zusätzlich die Arbeit verloren. Viele unserer Klientinnen arbeiten in Berufen, in denen es während Pandemie-Zeiten nicht wirklich Arbeit gab: in der Gastronomie, im Hotelgewerbe, im Tourismus allgemein… Es war ja alles zu. Das fand ja alles nicht statt. Also haben die Leute ihre Arbeit verloren, waren den ganzen Tag mit den Kindern in kleinen, engen Wohnungen eingepfercht. Deshalb sind schon unglaublich viele Anmeldungen und Anfragen gekommen. Teilweise haben die Frauen hier angerufen und gesagt: „Ich kann nicht mehr zurück nach Hause. Mein Mann dreht durch, er schlägt mein Kind, er schlägt mich.“ Das ist jetzt an sich kein neues Phänomen, aber die Anzahl hat zugenommen. Wir haben jetzt doppelt so viele Anfragen wie sonst. Und auch ich selbst habe schon öfter von Ehemännern böse Anrufe und böse Mails bekommen und wurde bedroht. Und auch die Gesamtsituation hat sich in den letzten Jahren in Deutschland geändert. Dinge, die früher No-Go’s waren, sind heute salonfähig: rassistische Anschuldigungen oder Beleidigungen. Oder auch Männer, die sagen „Was soll das denn mit dem Feminismus?“ oder uns mangelnde Fairness vorwerfen. Wir haben es öfter mal mit Männern zu tun, die sich offen gegen den Feminismus oder auch offen gegen Frauen stellen.
Ist das mit Corona schlimmer geworden?
Sophia Oelsner: Mein Eindruck ist, dass diese Entwicklung schon vor fünf, sechs Jahren begonnen hat. Dass es mit Corona schlimmer geworden ist, würde ich jetzt nicht unbedingt sagen. Es ist konstant geblieben. Aber wie Claudia bereits sagte, die Grenzen des nicht mehr Tragbaren haben sich einfach verschoben.
Claudia Tribin: Die Tendenz, Hass und Frustration durch Medien auszudrücken, hat sehr zugenommen. Für uns vielleicht nicht, aber für viele betroffene Frauen ist das eine neue Situation.
Sophia Oelsner: Und eigentlich hat sich ja das Xochi gegründet, weil Rassismus ein wichtiges Thema war, und ich finde es mehr als bedauerlich, dass es wieder kommt. Anrufe wegen rassistischer Zwischenfälle haben wir kontinuierlich. Jede Woche rufen Frauen an und erzählen: „Bei mir auf der Arbeit, auf der Straße ist mir das passiert …“ Der subtile Alltagsrassismus tritt immer deutlicher zutage.
Einen Audiobeitrag über die Arbeit von Xochicuicatl gibt es hier.