Christian Müller für die Online-Zeitung INFOsperber
Am 8. September 1941, vor 80 Jahren, gelang es der deutschen Wehrmacht, die russische Stadt Sankt Petersburg – damals hiess sie Leningrad – hermetisch abzuriegeln. Nicht russische Soldaten zu töten war das Ziel. Das Ziel war, die zivile Bevölkerung – Männer, Frauen, alte Menschen und Zehntausende Kinder – auszuhungern: sie auf dem Weg über den Hungertod umzubringen. Es war, wie es erhaltene schriftliche Dokumente zeigen, das erklärte Ziel, die ganze Stadt vom Erdboden verschwinden zu lassen. Über eine Million Menschen – Zivilisten! – kamen dabei in der abgeriegelten Stadt tatsächlich zu Tode, viele durch die andauernden Bombardements, die meisten aber verhungerten, wie von den Deutschen so gewollt. Erst 871 Tage später, am 27. Januar 1944, gelang es der Roten Armee, die deutsche Umzingelung der Stadt zu durchbrechen und wieder Lebensmittel in die Stadt zu bringen.
Und das soll einfach vergessen werden? In Sankt Petersburg ist die Erinnerung omnipräsent.
Und jetzt das
Nur eine gute Lebenslänge später, 2017, landen Transportschiffe der britischen Armee in Paldiski nahe der Hauptstadt Tallinn und bringen «Challenger 2»-Panzer nach Estland: jene Kriegsungeheuer mit über 60 Tonnen Gewicht, einer 120mm-Kanone und 450 km Aktionsradius. Von dort werden sie noch 140 Kilometer weiter nach Osten gebracht, nach Tapa, wo die Briten nun eine militärische Basis betreiben. Und hier, knappe fünf Panzerstunden von Sankt Petersburg entfernt, nehmen sie seither regelmässig an den Manövern der «NATO Enhanced Forward Presence» teil. Der Name sagt’s: «Enhanced Forward Presence» heisst so viel wie «verstärkte Präsenz vorne», also möglichst nahe an der Grenze zu Russland. Und von Tapa bis zur russischen Grenzstadt Iwanhorod sind es denn auch tatsächlich nur noch 150 Kilometer.
(Im Frühling 2021 hat die Rüstungsfirma RHEINMETALL BAE SYSTEMS LAND RBSL einen Auftrag zur technischen Modernisierung des Panzers Challenger 2 erhalten; das Auftragsvolumen übersteigt eine Milliarde US-Dollar. Wer Kriegsverherrlichung mag und sich das Ungeheuer gerne anschauen möchte, hier anklicken.)
Seit Wochen wird Richtung Russland geschossen – vorerst noch verbal
Aber obwohl die NATO ihre Manöver mit aus anderen Ländern herbeitransportierten Waffen bewusst nahe der russischen Grenze durchführt, wird seit Wochen und vor allem in den letzten Tagen Russland der Vorwurf gemacht, in der Nähe der ukrainischen Grenze Truppen zusammenzuziehen. Dabei wird zum Beispiel Russlands Waffenplatz in Jelnja erwähnt. Jelnja, eine Kleinstadt, die schon im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Truppen hart umkämpft wurde, liegt östlich von Smolensk, also deutlich näher an Belarus als an der Ukraine. Bis zur ukrainischen Nordgrenze sind es über 300 Kilometer, bis zum Donbass, wo sich die ukrainische Armee für den «geplanten» russischen Einmarsch in Stellung bringt, sind es gut und gerne 1000 Kilometer. Und Achtung: In Estland sind es britische Panzer, die bewusst «vorne» den Einsatz gegen Russland üben; in Jelnja, einer russischen Stadt, sind russische Panzer stationiert.
Die Springer-Presse giesst noch mehr Öl ins Feuer
Am Samstag, 4. Dezember, hat die deutsche Bild-Zeitung aufgrund von NATO- und Geheimdienstinformationen, wie sie behauptet, den russischen Angriffsplan im Detail vorgestellt. Dabei muss man wissen, dass der Springer-Medienkonzern, zu dem die «BILD» gehört, bereits zu 48,5 Prozent zwei amerikanischen Firmen gehört und Matthias Döpfner, der Konzernchef, mit eigenen Aktien und von Friede Springer übertragenen Abstimmungsrechten auf 44,4 Prozent kommt (Angaben vom September 2021) – und dass Döpfner öffentlich dafür plädiert, dass Deutschland sich näher an die USA anlehnen soll. Da sind gute Beziehungen zur NATO und zur CIA kein Wunder. Wer die CIA in den vergangenen Jahrzehnten beobachtet hat, weiss, dass sie nicht publiziert, was wahr ist, sondern was ihr bzw. den USA machtpolitisch nützt. Spätestens seit dem Angriff auf den Irak 2003 eine Binsenwahrheit.
Will Selenskyj im Donbass seine Präsidentschaft retten?
Unabhängigere Beobachter wissen, dass das grösste Problem im Moment in der Ukraine zu suchen und zu finden ist. Präsident Wolodymyr Selenskyj verliert schon bald im Wochenrhythmus politische Zustimmung. Da nützt auch nicht mehr, dass er seit seiner Wahl zum Präsidenten im Frühling 2019 bereits Dutzende Minister abgesetzt beziehungsweise ausgewechselt hat. Die grosse Gefahr ist jetzt, dass er als vermeintlichen politischen Befreiungsschlag im Donbass zum massiven militärischen Angriff nicht nur gegen die Separatisten, sondern auch gegen Russland bläst und damit zumindest einen regionalen Krieg auslöst. Dann aber, wenn grössere Kriegshandlungen beginnen, was immer wahrscheinlicher wird, müssen es natürlich die Russen gewesen sein, die den Krieg begonnen haben – wie vorausgesagt. Genau so war es ja in Georgien, als Präsident Saakaschwili 2008 den Schiessbefehl gegen Russland erteilte, die ganze Welt aber «wusste», dass es die Russen waren, die begonnen hatten. Erst die genaue Untersuchung der kriegerischen Auseinandersetzungen durch ein von der EU eingesetzes Abklärungsteam unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini konnte aufzeigen, dass Georgien angefangen hatte – was die meisten US-Politiker bis heute einfach «übersehen».
Wo sind die Stimmen, die zur Deeskalation aufrufen?
Der deutsche Spezialist für interkulturelle Kommunikation und Publizist Leo Ensel – Infosperber hat ihn im März dieses Jahres vorgestellt – ist in der gegenwärtigen Hetze gegen Russland einer der wenigen, die zur Deeskalation aufrufen. Schade, dass seine Analysen von den grossen westlichen Medien nicht abgedruckt werden. Man muss RT lesen, um auch die Stimmen der Kriegsgegner zu vernehmen. – Zu Leo Ensels Analyse, hier anklicken.
Gefragt zur Deeskalation wären jetzt Diplomaten vom Format von Heidi Tagliavini
Die ehemalige Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini war nicht nur die Leiterin der Untersuchung im Falle des Kaukasuskrieges 2008, sie war auch Moderatorin bei den Gesprächen, die zu den Abkommen «Minsk I» und dann zu «Minsk II» führten, die jetzt ausgerechnet von der meistinteressierten Ukraine nicht eingehalten werden. Zu Tagliavinis Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit schrieb Thomas de Waal, der alles andere als ein intimer Freund Russlands ist, auf «Carnegie Moscow Center» im Jahr 2015: «Was Tagliavini selbst anbelangt, so möchte ich persönlich sagen, dass ich ihren Mut und ihre Professionalität immer bewundert habe, da ich sie über 20 Jahre lang bei ihrer Arbeit erlebt habe, zunächst in der OSZE-Mission in Grosny und dann in Tiflis und Abchasien. Während des ersten Tschetschenienkriegs 1994-1996 gehörte sie zu einer kleinen Gruppe, die unter großem Risiko dazu beitrug, die Verhandlungen zwischen den tschetschenischen Rebellen und der Regierung Jelzin zu erleichtern. Danach leistete sie gute Arbeit als Leiterin der UN-Mission, die zwischen Georgien und Abchasien vermittelte. Ihr Bericht über den Krieg von 2008 wurde in diesem Geist hochprofessioneller Neutralität in Auftrag gegeben.»
Zu unkritisch gegenüber Russlands Regierung?
Red. Berichte und Kommentare auf Infosperber zum Thema Russland oder auch zur Ukraine werden zuweilen als einseitig freundlich gegenüber der russischen Regierung empfunden. Doch wir setzen voraus, dass unsere Leserinnen und Leser aus den grossen Medien über die Zustände in Russland und über die geopolitische Sicht der Nato zur Genüge informiert sind. Was angesichts des aufkommenden Kalten Krieges in diesen Medien häufig fehlt, sind Informationen zur Interessenlage Russlands. Nur wer sich auch für diese interessiert und viele Darstellungen auch der NATO als Propaganda erkennt, wird sich eine eigene Meinung bilden können.