Sieben Tage marschierten Anhänger*innen der Regierung, angeführt vom ehemaligen Präsidenten Evo Morales, Ende November 2021 von Caracollo im Departament Oruro zum Regierungssitz La Paz. Der Marsch mit tausenden Teilnehmer*innen war eine Antwort auf Blockaden und Demonstrationen von Bürger*innenkomitees, Händler*innen und LKW-Fahrer*innen in den Wochen zuvor.
„Hier ist dein Volk, Bruder Lucho, es wird dich nicht verlassen“, rief Evo Morales dem aktuellen Präsidenten Luis Arce auf der Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz zu, als der „Marsch für das Vaterland“ (Marcha por la patria) in der Innenstadt der Andenmetropole ankam. Der amtierende Präsident zeigte sich sichtlich gerührt und hatte Tränen in den Augen. Zuletzt hatten sich immer mehr Verbände und soziale Organisationen dem Marsch angeschlossen, auch die mächtigen Nachbarschaftsvereinigungen des benachbarten El Alto, die FEJUVES, beteiligten sich an der Mobilisierung. Deren Vizepräsident Ramón Quispe lies verlauten: „El Alto hat sich immer darin ausgezeichnet, die Demokratie zu verteidigen und das werden wir auch weiterhin machen“.
Die Geschehnisse von 2019 bestimmen das politische Geschehen noch immer
Die MAS und die sozialen Bewegungen sahen sich gezwungen, die Demonstration der Unterstützung für die aktuelle Regierung auf der Straße zu organisieren, nachdem die Administration Arce durch Proteste der Opposition unter Druck geraten war. Diese hatten seit Oktober mit Streik und Blockadeaktionen begonnen und damit auf sich aufmerksam gemacht. Vor allem die Bürger*innenkomitees aus Santa Cruz und Potosí sahen sich unter Zugzwang. Die Ermittlungen wegen deserzwungenen Rücktritts von Evo Morales 2019 und den Massakern in Senkata und Sacaba hatten bereits dazu geführt, dass der Vater von Luis Fernando Camacho von der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung vorgeladen wurde, auch der Governeur selbst hatte eine Vorladung erhalten.
Camacho, Gouverneur von Santa Cruz und zentrale Figur in den Ereignissen um 2019 als Militärs den Rücktritt von Evo Morales forderten, ist auf einem Video zu sehen, das auf den Dezember 2019 datiert. Dort erläutert er Mitstreitern, dass sein Vater mit Führungsfiguren der Militärs und der Polizei gesprochen habe, um diese davon zu überzeugen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, die zum Sturz von Evo Morales führten. Viele sehen in dem Video ein Beweis, dass es sich bei den Ereignissen vor zwei Jahren um einen Putsch handelte.
Geldwäschegesetz als Anlass für Protestaktionen
Mit den Protestaktionen, die am 11. Oktober begannen, versuchte die Opposition wieder in die Offensive zu kommen. Gelegenheit bot das Gesetz 1386, das die Bekämpfung von Geldwäsche und der Finanzierung von Terrorismus regeln sollten. Der Präsident des Comité Cívico, Rómulo Calvo sprach von „politischer Verfolgung“. Auch Händler*innen wandten sich gegen die Rechtsverordnung. Diese fürchteten, dass der Staat die Gewinne der informellen Ökonomie abschöpfen wolle.
Die Ablehnung des Gesetzes durch die zwei unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft führte zu einer Dynamik, die die Regierung letztendlich zwang, das Gesetz zurückzunehmen. Dabei kam es zunächst nur lokal begrenzt zu Streikmaßnahmen. Die MAS versuchte es mit einer Gegenmobilisierung, die in einigen Regionen, wie in La Paz auch gelang. Hier war von den angekündigten Blockaden so gut wie nichts zu verspüren. Und selbst in der Hochburg in Santa Cruz wurde der Streik nur teilweise befolgt und in Stadtvierteln in denen die MAS Anhänger*innen hat, kam es zum Teil zu Ausschreitungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen.
Kommunikationsdesaster der Regierung
Dass die Regierung dennoch das Gesetz zurückzog und der Opposition damit Überraschungserfolg bescherte, lag daran, dass es es Arce nicht gelang, die Händler*innen und Fernfahrer*innen davon zu überzeugen, dass das Gesetz gegen Geldwäsche den informellen Sektor nicht betreffen würde. Das Kommunikationsdesaster der Regierung führte dazu, dass die Bürger*innenkomitees in der Debatte die Oberhand gewannen. Als es zu einem eilig einberufenen runden Tisch durch die Regierung in der ersten Novemberhälfte Absagen der Berufsverbände hagelte und die Fernfahrer*innen mit landesweiten Blockaden drohten, nahm die Regierung das Gesetz zurück.
Der Sieg der Opposition führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen. Juan Ramón Quintana, unter Morales Minister, monierte: „Wir sind in eine schwierige Lage geraten, unseren Genossen in der Regierung und im Parlament fehlte die notwendige politische und ideologische Reife, um auf die Straße zu gehen und das Gesetz zu verteidigen”. Nicht zuletzt deshalb formierte sich der Marsch auf La Paz. Die MAS möchte nicht wieder, wie 2019, auf der Straße in die Defensive geraten. Insbesondere die erfolgreichen Mobilisierungen innerhalb der drei großen Städte La Paz, Santa Cruz und Cochabamba zeigten vor zwei Jahren, dass es der MAS an Rückhalt in den Städten fehlt. Der Analyst Boris Ríos weist darauf hin, dass der populäre urbane Sektor ohne Koordination gewesen sei und die Partei auf diesen Teil der Gesellschaft nicht eingehen würde.
Das gilt auch für kleinere Städte im andinen Hochland. Yhilmer Poma ist dort seit einigen Monaten im Stadtrat für die Liste Jallalla in Viacha, einer Stadt vor den Toren El Altos. Der Aktivist setzt sich seit Jahren für Verbesserungen in der Jugendpolitik der Kommune ein, „Jallalla war offen für unsere Vorschläge, die MAS nicht“ meint der junge Politiker. Nun macht er Politik für die Liste des „Mallkus“, Felipe Quispe, der 2020 den Widerstand im Departement La Paz gegen die Übergangsregierung Añez in La Paz koordinierte und im Januar 2021 überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das Departament La Paz wurde bei den Regionalwahlen Anfang des Jahres 2021 von Jallalla gewonnen, nicht von der MAS. In El Alto trat die bekannte Politikerin Eva Copa für die Liste an, nachdem sie von Evo Morales nicht als Kandidatin der MAS für die zweitgrößte Stadt Boliviens berücksichtigt wurde. Sie gewann prompt mit knapp 70 Prozent, dem Stimmenanteil, den die MAS in der Stadt bei den Präsidentschaftswahlen holte.
Für die MAS wird es schwierig, eine solide Basis in den Städten aufzubauen
Die MAS, so meint Stadtrat Poma, sei sehr hierarchisch strukturiert und würde von oben dirigiert. So war es auch im Wahlkampf in Viacha und sei es jetzt in der Arbeit im Stadtrat: „Mit den jüngeren Stadträten*innen der MAS ist die Zusammenarbeit und der Austausch möglich, aber mit den Älteren ist es sehr schwierig“.
Solange dieses hierarchische Prinzip herrscht, wird es für die MAS schwer sein, eine solide Basis in den Städten aufzubauen. Zwar will die Partei das nun unter Führung von Evo Morales angehen. Aber die Mobilisierung des „Marsches für das Vaterland“ hat gezeigt, dass es immer noch die traditionelle Basis der MAS ist, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die indigenen Organisationen des Einheitspakts (Pacto de Unidad) und des nationalen Gewerkschaftsverbandes COB, der den Marsch federführend organisierte, die das Rückrat der Macht bilden.
Die MAS müsse sich erneuern, meint der Analyst Gabriel Villalba
Das Problem ist in der MAS bekannt, der Analyst Gabriel Villalba, der die Regierung unterstützt, ist davon überzeugt, dass sich die MAS hier erneuern muss, wenn sie in den Ballungszentren eine solide Basis zurückgewinnen will. Zwar sind die Städte nach wie vor durch die Migration vom Land geprägt, die Migrant*innen seien inzwischen jedoch in der dritten Generation, so Villalba, „ihre Grosseltern sind vom Land in die Stadt gekommen, aber die jetzige Generation hat in der Stadt eine Schule besucht, ist zur Uni gegangen. Diese Generation hat andere Perspektive, die sich von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Wenn man am historischen indigenen Subjekt hängen bleibt, das aus dem ländlichen Raum kommt, hat man kein klares Panorama. Heute geht es nicht mehr nur darum, die Leute aus der Armut zu holen, sondern es gilt zu erklären, wohin die Reise gehen soll, dafür braucht es Projekte der Zukunft“.
Zum Beispiel in der Jugendpolitik, für die sich Yhilmer Poma im Stadtrat von Viacha einsetzt. Und hier so der Jungpolitiker ginge es zumindest auf kommunaler Ebene oftmals weniger um die Parteizugehörigkeit, sondern um die Person, wie das Ergebnis für Eva Copa in El Alto gezeigt habe, „die MAS setzte auf die Partei, aber auf der kommunalen Ebene entscheidet die Person, nicht die Partei“. Für den aktuellen Konflikt interessiert sich Poma nur am Rande: „die zwei politischen Kräfte werden sich weiterhin gegenüberstehen, aber die Mobilisierungen werden sich jetzt totlaufen, nächstes Jahr gibt es vielleicht eine neue Runde“, meint er schulterzuckend.
Eine konstruktive Opposition ist nicht in Sicht
Sollte es so kommen, dann bleibt der Patt im Herzen Südamerikas bestehen. Die MAS ist zwar die politisch stärkere Kraft, wird die Opposition aber nicht besiegen können. Diese wiederum wird versuchen mit Aktionen die Regierung zu schwächen. Eine konstruktive Opposition wird es mit den Bürger*innenkomitees, den Oppositionsparteien Creemos und Comunidad Ciudadana nicht geben. Sie sind ebenfalls in der Vergangenheit verhaftet, wenngleich in der der katholischen Republik, in der die rassistisch begründeten Klassenverhältnisse klar waren: dort die proletarisierten Indígenas und hier die kreolische weiße Oberschicht.
Anfang Dezember veranstaltete die MAS in Mizque ihren XI Kongress auf dem Land in Zentralbolivien. Im staatlichen Fernsehen zählt der Vorsitzende der Partei, Evo Morales die Organisationen auf, die an der Versammlung teilnehmen. Es sei vor allem die traditionelle Basis, die anwesend ist und, so der ehemalige Präsident: „Es geht um die Auswertung des Marsches fürs Vaterland, wir wollen sehen, welche neuen Mobilisierungen möglich sind“. Er spricht davon, dieses Mal auf die Hauptstadt Sucre und Santa Cruz, die Hochburg der Oppositionellen, zu marschieren. Er spricht von dem historischen Kampf gegen den kolonialen Staat und gegen den Neoliberalismus. Von Ideen, wie Wählerschichten in den Ballungszentren gewonnen werden können, wie sich die MAS erneuern könnte um an die veränderten Realitäten im Land anzudocken, spricht er nicht.