Es war der erste grössere Auftritt der Ex-Kanzlerin. Infosperber informiert über ihre wichtigsten Aussagen im Wortlaut.

Redaktion INFOsperber

Red. Während anderthalb Stunden antwortete Angela Merkel auf Fragen des Spiegel-Reporters und Schriftstellers Alexander Osang. Ihre wichtigsten Aussagen zum Krieg in der Ukraine und zu Putin im Gespräch, das der Gemeinschaftssender Phoenix von ARD/ZDF am 7. Juni ausstrahlte, sind im Folgenden wörtlich wiedergegeben. Die zeitliche Abfolge der Aussagen wurde zur besseren Verständlichkeit verändert. Die eckigen Klammern und die Zwischentitel sind von der Redaktion.

«Es macht mich etwas traurig»

Ich habe mich gefragt, ob man diese Tragik hätte verhindern können […]

Als ich 2007 Putin in Sotschi besuchte, sagte Putin, dass der Zerfall der Sowjetunion die schlimmste Sache des 20. Jahrhunderts war. Für mich dagegen war es der Glücksumstand meines Lebens.

Diese Uneinigkeit hat sich immer fortentwickelt. Es war nicht möglich, den Kalten Krieg zu beenden. Es gelang nicht, [in Europa] eine Sicherheitskultur zu schaffen.

Im Rückblick darf ich feststellen, dass ich alles versucht habe, um ein solches Ereignis wie das jetzige zu verhindern, auch zusammen mit dem französischen Präsidenten. Ich würde mich sehr schlecht fühlen, wenn ich gesagt hätte, mit jenem Mann braucht man gar nicht zu reden. Russland ist die zweitgrösste Atommacht der Welt. Russland reicht von Asien bis nach Europa. Der europäische Teil Russlands ist einer der grössten Teile Europas[…]

Es macht mich etwas traurig, [wenn gefragt wird], warum die Entscheide am Nato-Gipfel in Bukarest so gefallen sind. Oder wenn die Presse heute schreibt, das Minsk-Abkommen sei in einer Notsituation entstanden und eigentlich nicht fair gewesen. Man darf nicht schwarz und weiss sehen, sondern muss die Umstände berücksichtigen. Das Minsk-Abkommen war von der EU genehmigt und floss in einen Entscheid des UN-Sicherheitsrats ein.

Frage von Alexander Osang: «Die USA wünschten 2008 für die Ukraine die Vorstufe einer Nato-Mitgliedschaft, einen sogenannten Membership Action Plan. Warum waren Sie dagegen?»

Es ging um die Ukraine und um Georgien.

Erstens war die Ukraine nicht diejenige, die wir heute kennen. Das Land war innerlich demokratisch nicht gefestigt […]

Zweitens war ich sicher, dass Putin dies nicht einfach geschehen lassen wird. Aus Sicht Russlands wäre es eine Kriegserklärung gewesen. Ich teile seine Auffassung nicht. Auch nicht seine Auffassung, dass er ständig gedemütigt wurde, das teile ich überhaupt nicht. Aber ich wusste, wie er dachte und dass er es so sieht. Wenige Monate später zeigte Putin, dass er diese Entwicklung in Georgien nicht akzeptiert […] Es war klar, dass er dies auch in der Ukraine nicht geschehen lassen würde. Putin wollte einen Fuss in diesen Ländern haben, damit sie sich nicht westlich ausrichten können [mit einem Beitritt zur Nato]. Ich wollte [Russland] in der Ukraine nicht provozieren.

Drittens kämpfte Präsident Selenski [nach seinem Amtsantritt] zwar mutig gegen die Korruption an, aber damals war die Ukraine schon noch ein von Oligarchen beherrschtes Land. Man kann nicht einfach sagen, man nehme ein solches Land in die Nato auf.

Aus diesen Gründen war ich strikt dagegen.

Ich wollte eine Eskalation verhindern. Man kann nicht von heute auf morgen der Nato beitreten. Selenski sagte ja kürzlich, wenn die Ukraine bei der Nato wäre, würden wir sie heute aktiv mit unseren Soldaten mit verteidigen. Aber ich wusste, dass in diesem Prozess eines Nato-Beitritts Putin etwas tun würde, was der Ukraine nicht guttut. Deshalb war ich dagegen.

Doch Präsident Bush und die osteuropäischen Länder waren dafür. Und um die Nato nicht auseinanderfallen zu lassen, wurde dann gesagt, die Ukraine und Georgien können eines Tages der Nato beitreten. Das war der Kompromiss. Putin war enttäuscht und geriet in Alarmbereitschaft. Allerdings rechtfertigt dies Putins heutiges Tun nicht.

Der heutige CIA-Chef William Burns war damals US-Botschafter in Moskau. Er erwähnt drei Dinge, die Putin sehr kritisch sah: 1. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, 2. Der Raketenschirm von Präsident George Bush und 3. der «Membership Action Plan» für die Ukraine.

Aber alles, was hätte anders laufen können, sind reine Spekulationen, und ändert nichts daran, dass es sich um einen Bruch des Völkerrechts handelt, den wir auf gar keinen Fall akzeptieren können […] Ich halte die Entscheidung von Putin für katastrophal und fatal, auch für Russland.

Merkel zum deutschen Afghanistan-Einsatz im Rahmen der Nato

Ich habe mir nie Illusionen gemacht. Wie lange waren die Amerikaner schon in Europa? Ein Land [wie Afghanistan] innerhalb von 15 Jahren zu befrieden, war vielleicht schon ein ambitioniertes Projekt […] Ich war immer dafür, weiter zu machen. Nun hat Joe Biden den Entscheid getroffen. Die Amerikaner waren die Hauptakteure. Wir müssen uns fügen. Es bleibt ein riesiges schlechtes Gewissen: Was wir da hinterlassen haben!

Merkel zu Nordstream-2: «Das finde ich nicht in Ordnung»

Ich möchte ein Wort zu Präsident Biden sagen: Ich habe mich im Zusammenhang mit Nordstream-2 sehr geärgert. Wir waren politisch unterschiedlicher Meinung – Biden war ja wie viele Amerikaner der Meinung, dass Nordstream-2 falsch sei. Darauf haben die Amerikaner reagiert, indem sie gegen die Unternehmen, die an Nordstream-2 beteiligt waren, Sanktionen verhängten. Das konnten sie nur tun, weil der amerikanische Markt [für die Unternehmen] so wichtig ist. Das hat mich schon sehr geärgert. Das macht man mit dem Iran oder Russland, OK, aber dass man das mit uns als Verbündete – wir kämpften gemeinsam in Afghanistan – gemacht hat, finde ich nicht in Ordnung.

 

Alexander Osang übernahm drei Fragen, die ihm der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, zu Handen von Merkel zugestellt hatte

  1. Hat nicht die Apeasement-Politik [Beschwichtigungspolitik] den Angriff erst möglich gemacht?Das ist nicht meine Meinung. Wenn wir 2014 oder Anfang 2015 anders reagiert hätten, hätte Putin in der Ukraine einen riesigen Schaden anrichten können.
    Wenn der Nato Membership Action Plan im Jahr 2008 für die Ukraine gekommen wäre, wäre ein Angriff noch schneller gekommen, weil die Ukraine noch viel weniger darauf vorbereitet gewesen war.
  2. Gibt es für Sie einen Grund, sich zu entschuldigen?Wenn Diplomatie nicht gelingt, heisst es nicht, dass sie falsch war. Ich sehe keinen Grund, mich zu entschuldigen. Man weiss ja nicht, was Putin 2014 [ohne das Minsker Abkommen] weiter gemacht hätte […] Es wird gesagt, wir hätten alle an ‹Wandel durch Handel› geglaubt. Ich habe nie geglaubt, dass Putin durch Handel gewandelt wird […] Putin will die Europäische Union zerstören, weil er sie als Vorstufe der Nato sieht. Aber wir können ja nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Man hat die Pflicht und Schuldigkeit, diplomatisch alles zu versuchen [um einen Krieg zu verhindern]. Alle sechs Monate musste der EU-Ministerrat entscheiden, ob wir die Sanktionen verlängern. Wir haben sie immer verlängert. Meines Erachtens hätten die Krim-Sanktionen auch schärfer ausfallen können.
    Wir haben aber auch nicht nichts gemacht. Putin wurde aus der G-8 ausgeschlossen. Wir haben am Gipfel in Wales das 2-Prozent-Ausgaben-Ziel für die Nato festgelegt […] Deutschland erhöhte den Verteidigungs-Etat von 32 auf 50 Milliarden. Wir haben also auf die Krim reagiert.
    In unserer Koalitionsregierung habe ich mich vergeblich dafür eingesetzt, dass wir bewaffnete Drohnen kaufen … Es war andererseits richtig, dass wir die allgemeine Wehrpflicht abschafften. Die Generäle sagten mir damals alle, dass dies für eine technisch hoch ausgerüstete Armee hilfreich sei.
  3. Halten Sie Putin für berechenbar?Es lohnt sich, wenigstens genau hinzuhören. Ich sehe bei ihm eine kontinuierliche Linie, bei der er immer mehr Grenzüberschreitungen macht […] Bei allen Differenzen müssen wir versuchen, in einer Ko-Existenz zusammenzuleben, um Krieg zu vermeiden.

Das Gespräch mit Angela Merkel im Fernsehen: