Bei der Bekämpfung der globalen Nahrungsmittelkrise will der Westen unbedingt erreichen, dass die Ukraine ihr diesjähriges Exportvolumen an Getreide per Seeweg auf die Märkte bringt. Das Problem dabei: Die einzigen sich unter ukrainischer Kontrolle befindenden Häfen im Schwarzen Meer sind durch ukrainische Minen blockiert. Die NATO stellte in Aussicht, einen sicheren Korridor für die Getreidefrachter zu schaffen, was jedoch auf die Interessen der Türkei in der Region trifft. Diese will ihren Einfluss stärken und versucht daher, eigenhändig und ohne NATO-Beteiligung für einen „Schutzkorridor“ zu sorgen.

Von Alexander Männer

In der Frage der sogenannten globalen Nahrungsmittelkrise will der Westen die russische Militärintervention in der Ukraine als die Ursache für das Problem ausgemacht und auch einen Ausweg gefunden haben. Diesbezüglich soll die Ukraine ihr diesjähriges Exportvolumen an Getreide per Seeweg auf die Märkte bringen, was derzeit allerdings kaum möglich ist, da die einzigen sich unter ukrainischer Kontrolle befindende Häfen im Schwarzen Meer durch ukrainische Minen blockiert sind.

Die NATO zeigte sich sofort bereit, mit ihren Kriegsschiffen einen sicheren Korridor zu schaffen. Diesem Angebot steht jedoch nicht nur die russischen Präsenz im Schwarzen Meer im Weg, sondern auch die Interessen der Türkei, die ihren Einfluss in der Region stärken will und deshalb eine Schlüsselrolle bei der Lösung des Problems übernehmen möchte.

Zuallererst gilt es zu erwähnen, dass das vorherrschende Narrativ in vielen westlichen Ländern von der globalen Lebensmittelkrise, die hauptsächlich dadurch verursacht worden sein soll, weil die Ukraine vor allem die 20 Million Tonnen Weizen aufgrund der russischen Invasion nicht auf den Weltmarkt bringen könne, zumindest diskussionswürdig ist.

Ungeachtet der Warnung der Vereinten Nationen, wonach 1,6 Milliarden Menschen von dem Ukraine-Krieg weltweit betroffen sind, sprechen die offiziellen Zahlen nicht unbedingt dafür, dass der in den ukrainischen Silos blockierte Weizen der Hauptgrund für die globale Lebensmittelknappheit ist. Denn, das besagte Exportvolumen der Ukraine in Höhe von 20 Millionen Tonnen ist im Vergleich zu den etwa 780 Millionen Tonnen Weizen, die weltweit pro Jahr produziert werden, eher ein Bruchteil der globalen Weizenmenge. Um genaus zu sein sind das gerade mal 2,6 Prozent. Und wenn man davon ausgeht, dass der Weizen nur einen Teil des gesamten Nahrungsmittelverbrauchs der Weltbevölkerung ausmacht, dann hat der ukrainische Weizen einen sogar noch kleineren Anteil an der Nahrungsmittelkrise.

Nahrungsmittelkrise als Chance für mehr NATO-Präsenz im Schwarzen Meer?

Umso bemerkenswerter ist es, dass die NATO das besagte Narrativ rasch aufgegriffen und ihre Hilfe bei der Ausfuhr des ukrainischen Weizens in Aussicht gestellt hat, wofür es auch reichlich Unterstützung von den Medien gab. Dies erweckte bei vielen Beobachtern jedoch den Eindruck, dass die Allianz das besagte Problem auszunutzen wollte, um Kriegsschiffe in das Schwarze Meer zu entsenden und dadurch etwa die militärische Lage der Kiewer Truppen dort zu verbessern. Die ukrainische Flotte wurde längst zerschlagen und existiert im Grunde nicht mehr. Darüber hinaus waren wenige Woche zuvor mehrere ukrainische Versuche, den russischen Streitkräften im Raum der Schlangeninsel eine Niederlage zuzufügen und eine Verbindung in die Schwarzmeer-Hafenstadt Odessa zu erkämpfen, kläglich gescheitert.

Ungeachtet aller möglichen Pläne für Marine-Aktivitäten im Schwarzen Meer stieß die NATO im Endeffekt auf den Widerstand der Türkei, die sich dem Druck der Partner nicht beugen will und wegen des Ukraine-Krieges keine weiteren Kampfschiffe in das Schwarze Meer durchfahren lässt. Denn, Ankara garantiert die Einhaltung des Montreux-Abkommens und regelt somit die Schifffahrt durch die Meerenge der Dardanellen sowie des Bosporus. In Folge der russischen „Spezialoperation“ hat die türkische Führung entsprechende Regelungen des Abkommens in Kraft gesetzt, die unter anderem die Fahrt von Kriegsschiffen durch die besagten Meerengen verbieten.

Der Widerstand der türkischen Führung, die sowohl offen propagiert, mit der wichtigste Akteur in der Schwarzmeerregion zu sein, als auch dafür wirbt, eine größere Rolle in der internationalen Politik zu spielen, ist verständlich, da ein aus Brüssel gesteuerter NATO-Einsatz zur Schaffung eines „Schutzkorridors“ im Schwarzen Meer, der obendrein inmitten eines Konfliktes mit Russland ablaufen würde, mit hoher Wahschrscheinlichkeit das Gleichgewicht in der Region stören und dadurch die Macht der Türkei untergraben würde.

Darum will Ankara, die nach Informationen des SPIEGEL vom 26. Mai bereits ihre eigenen Verhandlungen über einen Exportkorridor für Getreide aus der Ukraine geführt habe, unbedingt mehr NATO-Präsenz verhindern  und steigt so als Vermittler in die von den Vereinten Nationen geleiteten Verhandlungen zur Schaffung eines Schutzkorridors ein.

Türkei bringt sich als Vermittler ins Spiel

Wie das indische Portal republicworld.com berichtete, haben Vertreter der Ukraine, Russlands und der UNO unter Vermittlung der Türkei am 3. Juni über eine Öffnung eines Korridors für ukrainische Getreideexporte beraten und eine entsprechende „road map“ beschlossen. Diesbezüglich erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu bei einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow am 8. Juni nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters, dass die Priorität der Türkei darin liege, „Maßnahmen zur Vermeidung einer globalen Lebensmittelkrise zu ergreifen“, indem man die Zusammenarbeit mit der Ukraine und Russland intensiviere. Dafür sei der von der UN mitgetragene Plan zur Schaffung eines Korridors in die Ukraine „vernünftig“, heißt es.

Ankara, die sowohl offen propagiert, mit der wichtigste Akteur in der Schwarzmeerregion zu sein, als auch dafür wirbt, eine größere Rolle in der internationalen Politik zu spielen, nahm mit ihrem Vorstoß der NATO quasi den Wind aus den Segeln. Es sieht momentan nämlich so aus, als würde die NATO für einen Schutzkorridor gemäß dem UN-Plan vorerst keine Rolle mehr spielen.

Kar, die Verhandlungen sind noch in vollem Gange und eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine ist höchst ungewiss, da beide Seiten umfangreiche Sicherheitsgarantien verlangen. Nichtsdestotrotz handelt Ankara aus Sicht seiner Interessen sehr erfolgreich.

Die Türkei ist und bleibt ein Schlüsselakteur und stärkt obendrein ihren geopolitischen Einfluss in der Schwarzmeerregion. Die Türken halten zusätzliche Kriegsschiffe der Nordatlantikallianz auf Abstand, garantieren weiterhin die Einhaltung des Vertrages von Montreux und untermauern ein weiteres Mal ihren Standpunkt in dieser Frage.

Zugleich schafft man es, nicht nur Spannungen mit Moskau zu verhindern, sondern es sogar auf seine Seite zu ziehen, obwohl die Russen manchen Fragen der globalen Lebensmittelkrise, wie etwa den genannten Ursachen, eher skeptisch gegenüberstehen. Die Zusage der russischen Führung ermöglicht es dem türkischen Militär, den Schiffsweg durch das Schwarze Meer, in dem hunderte von der ukrainischen Minen lauern, eben von diesen Minen freizuräumen und den Frachtschiffen sicheres Geleit bieten.

Darüber hinaus geht es für Ankara auch um Ansehen auf in der internationalen Bühne, wie der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert richtig feststellt. Demnach ist die Türkei derzeit das einzige NATO-Land, das im Ukraine-Krieg vermitteln kann. Dies sei auch ein wichtiges Signal an die Allianz, mitten im Streit um die Aufnahme von Finnland und Schweden.

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