Wenn ich es mir recht überlege, gibt es keine Erinnerung an ein ähnliches Ereignis, zumindest nicht in den letzten dreißig Jahren. Die Tatsache, dass eine Gruppe von Europaabgeordneten die von manchen als abgrundtief empfundene Entfernung zwischen der europäischen Hauptstadt Brüssel und der südlichsten Küste des Kontinents zurücklegt, um ein kalabrisches Dorf mit etwas mehr als tausend Seelen zu erreichen – ein Dorf, das „nur“ den Verdienst hat, eine Utopie beherbergt zu haben, die Wim Wenders als prophetisch bezeichnete – erscheint uns als eine politische Geste von außerordentlicher Bedeutung.

Europaabgeordnete in Riace

Diese Reise, die Anfang Juni Vertreterinnen und Vertreter mehrerer Fraktionen des Europäischen Parlaments (GRÜNE und Die Linke) nach Riace in der Provinz Reggio Calabria führte, hat einen sehr starken symbolischen Wert in einem gelinde gesagt historischen Moment. Wir befinden uns mitten in einem Krieg vor den Toren Europas, den die meisten unserer Regierungen sogar unterstützen, indem sie Waffen schicken, um Russland daran zu hindern, ein souveränes Land, die Ukraine, zu verwüsten, und der das Ausmaß einer noch nie dagewesenen Flucht von Tag zu Tag vergrößert.

Der Boden Europas wird von Strömen von Männern und Frauen zertreten, die vor den Bomben eines Konflikts fliehen, der unseren mittelmäßigen Politikern aus dem Ruder gelaufen ist und der bei heutiger näherer Betrachtung bereits vor Russlands Einmarsch die Ausmaße einer Tragödie angenommen hatte. Doch in diesem kollektiven Schock meinen einige Abgeordnete, ihren Blick auf eine kleine Stadt an der italienischen Küste richten zu müssen, die „illegale“ Taten begangen hat, um den Vorrang der Menschenrechte vor dem Gesetz und denjenigen der Gastfreundschaft vor der Norm zu behaupten.

Was passiert da? Warum hat jemand in Brüssel das Bedürfnis, ein Dossier „gegen die Kriminalisierung der Solidarität“ ausgerechnet auf diesem einsamen kalabrischen Hügel zu veröffentlichen und beschließt, an den Ufern des Ionischen Meeres zu landen (das auch jetzt noch Segelboote mit kurdischen und afghanischen Flüchtlingen aufnimmt)? Und dies, um sich bei einer kleinen Gemeinschaft zu bedanken, die gezeigt hat, wie ein armes Land, Heimat von Migrant:innen, dem reichen Westen Lektionen erteilen kann und den Kometen der Rettung in einer Welt aufleuchten lässt, die zu sehr mit Geld und Kriegen beschäftigt ist?

Seit Jahren haben wir in Neapel im Rahmen unseres Menschenrechtsfilmfestivals Jurist:innen, Aktivist:innen und Zeug:innen der Verstöße gegen die Allgemeine Menschenrechtserklärung zu Gast, die die Abschottung des Alten Kontinents gegenüber den Hunderttausenden von Menschen anprangern, die aus dem Orient fliehen. Das heißt, aus jenen Orten, an denen religiöser Radikalismus und Diktaturen die Massaker wiederholen, die wir im letzten Jahrhundert „Völkermorde“ nannten und die uns heute nicht mehr schockieren. Wir schliessen sogar die Grenzen mit Militär- und Polizeieinsätzen und lassen zu, dass die Schwächsten geschlagen und gefoltert werden, die vor grausamen Fundamentalisten und ethnischem Hass fliehen und an die Türen Polens, Kroatiens oder Italiens klopfen, um einfach nur um Hilfe und das Recht auf Asyl zu bitten. Doch gerade jetzt bewegt sich plötzlich etwas.

Aus dem Herzen der europäischen Institution heraus bezieht eine Gruppe von Frauen und Männern entschieden Stellung und kommt nach Riace, um dem ehemaligen Bürgermeister Domenico Lucano die Hand zu schütteln und sich zu bedanken; um ihm erneut zu sagen, dass er Recht hat und dass die Menschlichkeit seines Handelns nicht durch die Gesetze unserer Demokratien geahndet werden kann und darf; weil Europa seine Wurzeln nicht verraten darf; weil Lucano Europa ist.

Ein Kurswechsel in der Politik?

Wir können nicht umhin, uns zu fragen, welcher Logik all dies folgt und ob es vielleicht tatsächlich einen Marschrichtungswechsel, der im Europäischen Parlament sitzenden Politiker darstellt, einen möglichen neuen Weg, auf dem sich alle demokratisch Denkenden wiederfinden, die das Bedürfnis nach wahrer Menschlichkeit verspüren. Das fragt sich eine Gruppe von uns, die einen einfachen Empfang für diese Parlamentarier:innen organisiert hat, seit Tagen, nachdem wir Zeuge ihrer Solidaritätserklärung mit dem ehemaligen Bürgermeister von Riace geworden sind, nachdem wir unseren Gästen erklärt haben, wie die Erfahrungen in Riace und seinem Global Village sind, und nachdem wir im Detail all den Hass erzählt haben, der gegen dieses Experiment des gemeinschaftlichen Lebens entfesselt wurde.

Hier geht es um Folgendes: Wir sollten uns fragen, ob wir vor einem neuen Horizont stehen oder ob dieses Treffen nur ein Zusammenzucken war, ein letztes Aufkeuchen des europäischen politischen Systems, das von globalen Gremien wie dem IWF, der NATO und den tausend nationalistischen Fragmenten, die den Osten vergiften, erstickt wird.

Wir haben uns selbst eine Antwort gegeben. Wir glauben, dass in Riace mehr getan wurde, als nur ein Dokument vorzulegen, das die Härte der repressiven Systeme der Europäischen Union und einzelner Staaten anprangert; wir denken, dass in diesen Tagen des Kontakts zwischen so unterschiedlichen Akteuren und zwischen so weit entfernten Erfahrungen eine erste, solide Verbindung zwischen Brüssel und der Peripherie Europas, zwischen dem Oberkommando und dem äußersten Schützengraben hergestellt wurde. Einem Graben, der seit mehr als zwanzig Jahren die Schiffbrüchigen des Meeres sammelt, wo rücksichtslose Diktaturen und vergessene Kriege zum Vorschein kommen; wo arme Menschen ankommen, die mit ihrem Leben für die Grausamkeit von Regimes bezahlen, die von multinationalen Ölkonzernen und neokolonialen Regierungen aufrechterhalten werden.

Wenn das der Fall ist, lohnt es sich, dieses Experiment zu verfolgen und uns gegenseitig zu unterstützen, den Weg, den wir gerade eingeschlagen haben, mit Weisheit und Realismus zu begleiten, denn wir wissen, wie weit entfernt voneinander die Pole sind, die sich hier erstmals berührt haben. Wenn es stimmt, dass bisher nur Tiefschläge und Dekrete aus den europäischen Hauptstädten kamen, die versucht haben, die humanitären Schiffe und die Proteste der Zivilgesellschaft und der NGOs gegen die unmenschliche Behandlung der aus den Wellen geretteten Schiffbrüchigen zu stoppen, müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass sich im Europäischen Parlament etwas ändert, dass Risse in den Mauern knirschen, die Frontex um die Festung Europa zu errichten versucht hat.

Riace ist nicht mehr allein, und die absurde Verurteilung von Mimmo Lucano durch das Gericht von Locri wird zu einem unglaublichen Bumerang, der in die italienische Politik zurückschlägt. Von vielen Seiten gibt es Solidaritätsbekundungen, die etwas deutlich machen: Niemand hatte die Schlammmaschinerie erkannt, die zur Bestrafung eines Mannes in Gang gesetzt wurde, und das Beispiel des eklatanten Ungehorsams, das die Widersprüche eines nur halbgaren Gesetzes, aufzeigte. Und unsere parlamentarischen Gäste wollten dies bekräftigen und legten Zeugnis für die Bewunderung von weiteren hundert Kolleg:innen ab.

Kriminalisierung der Solidarität in ganz Europa

Die Parlamentsmitglieder, die nach Riace kamen, schrieben in ihrem Dossier, dass es nach ihren Recherchen nicht weniger als 89 Fälle von Kriminalisierung der Solidarität in ganz Europa gibt – was beweist, dass der Fall von Mimmo Lucano keine „Anomalie“ ist, wie die Strafverteidiger:innen artig behaupten. Vielleicht sind die Anklagen gegen Carola Rackete, Lorena Fornasir und Gian Andrea Franchi, gegen Emilio Scalzo und gegen Andrea Costa nicht nur punktuelle Maßnahmen von Richtern, die sich an die Regeln halten, sondern es gibt noch etwas anderes: es gibt ein Europa, das Angst vor dem Wind der Freiheit hat, der die Segel der humanitären Schiffe bläht, der Open Arms, der Sea Watch, der Resq People und derer, die Gesetze übertreten, um die Verfassung nicht zu verraten.

Und so nimmt Riace in diesem neuen Licht das Profil eines objektiven Vorpostens einer gewissen Verbotspolitik an, die versucht, mit Vorschriften die Notwendigkeit einer neuen Solidarität mit denjenigen zu stoppen, die vor Kriegen fliehen – vielleicht, weil sie diese Kriege selbst auf dem Gewissen hat. Und jetzt ist es an der Zeit, die Kräfte all dieser mutigen Friedensakteure zu bündeln, um einen neuen Weg einzuschlagen.

Und auch die ukrainische Tragödie, die nie beschwichtigte nationalistische Ausschreitungen aufgedeckt hat, zeigt uns, dass Solidarität keine Farbe hat, kein rechts oder links; denn einem Menschen, der flieht und seine Geschichte und seine Verbundenheiten mit sich schleppt, muss auf jeden Fall geholfen werden, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Religion oder seinen allfälligen Verfehlungen. Und Riace hat viele Jahre lang genau das bedeutet, aber heute beginnen erst einige, diese Bedeutsamkeit zu verstehen, und gehen und lesen die Worte von Wenders, Papst Franziskus, Alex Zanotelli und Gino Strada und schämen sich für die Doppelmoral bei der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine einerseits und aus Afghanistan andererseits.

Apropos, es lohnt sich, daran zu erinnern, dass in Riace Menschen aus Afghanistan angekommen oder besser gesagt zurückgekehrt sind und bleiben wollen, denn hier macht niemand einen Unterschied bei der Nationalität der Flüchtenden und Asylsuchenden. Hier sind Kinder und Erwachsene alle gleich, sie haben die gleichen Rechte und bekommen nicht nur ein Dach über dem Kopf und Essen für sechs Monate, sondern ein Recht auf ein vollständiges und würdiges Leben.

Eine vereinte Front der humanitären Kräfte

Die Wahl dieser Parlamentarier lässt uns hoffen, dass das Dossier zum Kampf gegen die Kriminalisierung der Solidarität nicht nur ein Dokument ist, sondern den Willen gesunder Institutionen ausdrückt, sich in diesen humanitären Ansatz zu integrieren, der hier geboren wurde und den einige zu zerstören versucht haben. Und auch wir wünschen uns, dass dieser rote Faden, der Brüssel drei Tage lang mit Riace verband, nicht mehr reißt und dass es im Herzen Europas ein offenes Ohr für Andersdenkende, für Ungehorsam und Zweifel gibt.

All diese Empfindlichkeiten zusammenzubringen, das ist die Verpflichtung, die uns in den kommenden Monaten erwartet, um eine vereinte Front der humanitären Kräfte aufzubauen. Das ist die richtige Art, diesen Parlamentariern zu danken, die einen Rettungsring in das Meer der Gleichgültigkeit geworfen haben; damit Riace und die kleinen Helden dieser Abenteuer in ihrem Kampf für eine bessere Welt nicht allein sind.

Übersetzung aus dem Italienischen von Domenica Ott vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


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