Unter dieser Überschrift veröffentlichte die Main Post am 14. Mai 2022 einen umfangreichen, bemerkenswerten Beitrag.
So schreibt der Journalist Michael Czygan:
„Russisches Gas und Öl braucht in Großbardorf fast niemand mehr: Das 950-Einwohner-Dorf in Rhön-Grabfeld zeigt, wie der Umstieg auf erneuerbare Energien gelingen kann.
Während eine Biogasanlage 80 Prozent der Wärme liefert, die Privathaushalte, Betriebe und öffentliche Einrichtungen benötigen, erzeugen die Photovoltaik- und Windkraftanlagen im Ort gemeinsam mit der Biogasanlage sogar die 15-fache Menge des in Großbardorf benötigten Stroms. Und das Beste dabei: Die Erlöse aus dem Strom- und Wärmeverkauf landen nicht bei auswärtigen Energieversorgern, sondern sie bleiben größtenteils bei den Bürger*innen im Dorf und in der unmittelbaren Nachbarschaft.“
Und diese dezentrale, autarke Eigenversorgung geschieht nicht erst seit heute, sondern schon seit über 10 Jahren. Ich selbst kann mich sehr gut an die Einweihung der Nahwärmeversorgung in dem fränkischen Dorf, in dem ich einst Wahlkreisabgeordneter war, erinnern, als einer der Initiatoren Matthias Klöffel in seiner Rede sagte: „Uns wird es nie stören, wenn Putin einmal den Gashahn zudrehen will.“
Die Geschichte in Großbardorf hat eine ganz besondere historische Brisanz. Einer der Großväter der jetzigen Genossenschaft hatte zusammen mit dem Ortspfarrer schon 1921, also bereits vor hundert Jahren eine Energiegenossenschaft gegründet. Sie bauten ein Windrad im angeblich so windarmen Franken und versorgten mit einem dezentralen Netz die Ortsbewohner*innen mit Strom. Das Angebot des Überlandwerkes zur Stromversorgung des Dorfes lehnten sie ab, da sie selbstständig und billiger sein wollten, also alles in Bürgerhand.
Bürgerenergie ist also keine neue Erfindung, sondern über 100 Jahre alt.
Zerstört wurden die damaligen Anfänge der Bürgerenergie nicht nur in Großbardorf durch die Machtübernahme Hitlers. Er legte ein neues Energiewirtschaftsgesetz auf, worin Gebietsmonopole der Stromversorgung festgelegt wurden und die bürgerliche Eigenenergieerzeugung faktisch verboten wurde. Hitlers Ziel waren starke Energiekonzerne, die seine künftige Kriegswirtschaft verlässlich mit Energie versorgen sollten. Bezeichnend ist, dass das Großbardorfer Windrad dann eingeschmolzen wurde, um daraus Bomben zu fertigen.
Das Energiewirtschaftsgesetz Hitlers war bis 1998 die Gesetzesgrundlage auch in der BRD. Es hat die Grundlage dafür geschaffen, dass aus den Gebietsmonopolen die großen Stromkonzerne RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall entstehen konnten mit aller ihrer bis heute dominanten Marktmacht.
Diesen Konzernen war es immer ein Dorn im Auge, wenn bürgerliche Investitionen in die Stromerzeugung – wie sie im Jahr 2000 mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) an Fahrt aufnahmen – ihnen das Kerngeschäft Stromerzeugung wegnahmen. Das dominante Geschäftsmodell der Konzerne ist bis heute, dass sie selbst Strom erzeugen und an gefangene Kund*innen weiterverkaufen. Ökostrom-Eigenerzeugung, Eigenverbrauch oder gar Belieferungen der Nachbar*innen in anderen Häusern (Energy Sharing) wird von den Konzernen weiter behindert. Wenn sie überhaupt in Ökostrom investieren, dann nur in Eigenerzeugung mit Verkauf an Kund*innen. Nur wenige Ausnahmen gibt es mit Beteiligungsmodellen der Konzernkund*innen.
Bis heute ist die Ermöglichung von Energy Sharing – obwohl es längst in der aktuellen Erneuerbare-Energien-Richtline der EU vorgeschrieben ist – nicht in nationales Recht umgesetzt.
Dabei gäbe es, wie Großbardorf und hunderte anderer Kommunen sowie sogar ganze Landkreise wie Rhein-Hunsrück aufzeigen, eine große Bereitschaft in Dörfern und Städten Energiegemeinschaften für Nahwärme und Strom zu gründen und das Energiegeschäft in die eigene Hand zu geben.
Genau dafür braucht es aber wesentlich verbesserte Rahmenbedingungen für die Energiegemeinschaften:
- Abschaffung des Ausschreibungssystems für die Erneuerbaren Energien insgesamt, gerade auch für Biogasanlagen, die den winterlichen Kern für Strom- und Wärmeerzeugung in den Dunkelflauten sichern;
- eine Novelle im Energiewirtschaftsgesetz, um Energy Sharing für Alle zu ermöglichen
- eine offensive Kampagne der Bundesregierung, um die große Bereitschaft der Bürger*innen für die Eigenerzeugung, Eigenverbrauch und Vermarktung neu zu entfachen.
Doch genau diese Weichenstellungen fehlen. So sollte z.B. der Bundeskanzler in sich selbstversorgende Kommunen wie Großbardorf fahren und die ganze Republik auffordern, es ihnen gleichzutun. Es braucht eine vom Bundeskanzleramt organisierte motivierende Konferenz des Städte- und Landkreistages, um schnell die enormen Potentiale für Erneuerbare Energien in den Dörfern und Stadtteilen zu heben. Tausende Kommunen könnten es in wenigen Jahren genauso wie Großbardorf schaffen, schnell von fossilen und atomaren Energien ganz loszukommen und so einen schnellen großen Beitrag zum Sofortausstieg von russischen Energielieferungen zu schaffen.
Wir sehen ja, dass die Bundesregierung mit ihrem fast ausschließlichen Setzen auf Diversifizierung bei fossilen Rohstoffen es nicht schafft, sich schnell von den russischen Energien abzulösen.
Fast triumphierend hat die russische Regierung gerade verkündet, dass die Kriegskasse in diesem Jahr wohl mit fast 14 Milliarden Euro Mehreinnahmen vor allem durch die westlichen Energieeinkäufe aufgefüllt wird.
Es wird immer offensichtlicher, wie schwer sich die Politik tut, sich von den russischen Energielieferungen sofort abzuschalten. Ein EU-Ölembargo ist gerade gescheitert, einen Erdgasausstieg kann sich die Bundesregierung selbst im kommenden Jahr nicht vorstellen und die Suche nach Ersatz für russische Energie findet fast ausschließlich im Ausland statt, mit Einkäufen von höchst klimaschädlichen fossilen Rohstoffen aus unsicheren, korrupten und oft kriegsführenden oder terrorfinanzierenden Ländern.
Bezeichnend sind die Erdgaseinkaufstouren von Minister Habeck nach Katar, von Kanzler Scholz in den Senegal oder sein Anruf beim Präsidenten Kolumbiens, um von dort neue Kohle zu bekommen. Dass beim Kohleabbau in Kolumbien große Menschenrechts- und Naturzerstörungen stattfinden, spielt wohl keine Rolle. Das Beschleunigungsgesetz für den Ausbau von LNG-Terminals ist selbstredend, für den Ausbau der Erneuerbaren Energien gibt es allerdings nichts Vergleichbares.
Bezeichnend ist auch die Entgleisung von Kanzler Scholz auf dem Katholikentag in Stuttgart, wo er Klimaaktivist*innen beschimpfte, statt sich mit Ihnen auseinanderzusetzen.
Bis heute weigert sich Kanzler Scholz, die wirkliche Dramatik der Erdüberhitzung wahrzunehmen. Stattdessen ist er wohl voll in der Hand der fossilen Wirtschaft, die seit Jahrzehnten Klimaschutz verhindert, wie ein jüngster Artikel im Guardian überdeutlich aufzeigt und auch in den nächsten Jahren in große Klimabomben investieren will.
Kanzler Scholz wäre also gut beraten, sich mal in den Städten und Dörfern Deutschlands umzuschauen, die sich schon längst mit 100% Erneuerbaren Energien selbst versorgen. Diesen volle Unterstützung zuzusagen anstatt fossile Einkaufstouren in Unrechtsregime zu unternehmen, würde schnell sowohl die Unabhängigkeit von Russlands Energie als auch einen essentiellen Beitrag zum Klimaschutz schaffen. Großbardorf und viele andere Orte Deutschlands zeigen, dass 100% Erneuerbare Energien möglich sind. Diese Praxisbeispiele hätte sich der Kanzler seit 10 Jahren längst anschauen und daraus entsprechende Maßnahmen ableiten können.
Hammelburg, 2. Juni 2022
Hans-Josef Fell
Über den Autor:
Hans-Josef Fell ist Präsident der Energy Watch Group, einem internationalen Netzwerk von Wissenschaftlern und Parlamentariern zur Untersuchung der Verfügbarkeit und Verknappung fossiler und atomarer Energieressourcen und sowie der Ausbaumöglichkeiten erneuerbarer Energien. Von 1998 bis 2013 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und schon zu dieser Zeit setzte er sich für 100% Erneuerbare Energien ein. Für sein Engagement erhielt er zahlreiche Preise, darunter den Nuclear-Free Future Award der internationalen Anti-Atom-Bewegung.
Mehr Infos gibt es auf seiner Webseite Hans-Josef Fell – 100% Erneuerbare Energien! Auf alle Felle!