Jörg Schaber für die Online-Zeitung Infosperber
Die Patentinhaber diktieren, wer Covid-Impfstoffe zu welchem Preis erhält – obwohl sie Milliarden öffentlicher Gelder erhielten.
Red. Jörg Schaaber ist Soziologe und Gesundheitswissenschaftler und arbeitet seit vielen Jahren für die «BUKO Pharma-Kampagne«.
Am 17.6.2022 beschloss die Welthandelsorganisation (WTO) Änderungen bei den geistigen Eigentumsrechten lediglich für Covid-19-Impfungen. Sie bringen für den Globalen Süden jedoch nicht die erhofften Erleichterungen. Eine Niederlage für den gerechten Zugang zu Arzneimitteln und ein Sieg für Big Pharma.
Fast zwei Jahre ist es her, dass Indien und Südafrika bei der WTO die befristete Aussetzung geistiger Eigentumsrechte für Covid-19-Produkte vorschlugen (TRIPS Waiver). Das Ziel: Eine möglichst breite und kostengünstige Produktion von Impfstoffen, Medikamenten und Tests in der Pandemie. Der Antrag war auch aus dem Frust des Globalen Südens geboren, dass die Versprechen führender PolitikerInnen aus Industrieländern, Impfstoffe und Medikamente müssten allen Menschen auf der Welt zur Verfügung stehen, sich als leere Phrasen erwiesen.
Die reichen Staaten waren weder willens dafür zu sorgen, dass freiwillige Lizenzen für benötigte Produkte zur Eindämmung von Covid-19 in einen Patentpool kommen, noch waren sie zu anderen substanziellen Zugeständnissen bereit. Lediglich Geld für den Kauf von Impfungen wurde über die öffentlich-private Initiative «Covax» zur Verfügung gestellt [1], aber das kam viel zu spät und war viel zu wenig – auch weil der Globale Norden den durch Patentschutz künstlich verknappten Impfstoffmarkt bereits leergekauft hatte. Da Covax zu Preisen deutlich über den Herstellungskosten einkauft, tragen zudem Steuermittel direkt zur Erhöhung der Gewinne grosser Pharmakonzerne bei.
Blockade und Hinhaltetaktik
Es dauerte von Oktober 2020 bis Juni 2022, bis sich die WTO überhaupt zu einem Beschluss durchrang. Das hatte mit dem massiven Widerstand einiger reicher Staaten zu tun, darunter die EU – allen voran Deutschland – Grossbritannien und die Schweiz. In der WTO wird einstimmig entschieden, das machte den wenigen Ländern, in denen die grössten Pharmafirmen sitzen, die Blockade leicht.
In einer Nachtsitzung, die am 17.6.2022 um fünf Uhr morgens endete, wurde dann zwar eine Entscheidung getroffen, sie hat aber nichts mehr mit dem von Südafrika und Indien eingebrachten Entwurf für einen Waiver gemein. Obwohl formell ein Beschluss gefasst wurde, löst dieser die Probleme des ungerechten Zugangs zu Impfungen, Medikamenten und Tests nicht.
Der ganze Prozess war letztlich ein Scheitern mit Ansage. Ein Jahr nach dem Waiver-Vorstoss des globalen Südens brachte die EU im Oktober 2021 einen Gegenvorschlag ein, der sich auf kleinere Korrekturen am bestehenden Regelwerk zu Zwangslizenzen beschränkte, statt eine grundsätzliche Aussetzung von Patenten und anderen Schutzrechten im Zusammenhang mit Covid-19 zu ermöglichen Die Entscheidungen auf der WTO-Ministerialkonferenz orientieren sich nun weitgehend an diesen EU-Vorschlägen, die die Probleme nicht lösen. 223 kritische Gruppen aus aller Welt (darunter auch die Pharma-Kampagne) hatten in den Tagen vor der Entscheidung vor einem faulen Kompromiss gewarnt – lieber kein Waiver als dieser Entwurf [2].
James Love von Knowledge Ecology International (KEI), der die Prozesse um den Waiver eng verfolgt hat, schrieb treffend: «Diese Woche [beim WTO Ministerialtreffen] gab es erheblichen Druck, einen Konsens zu erzielen, damit der Eindruck entsteht, dass der Multilateralismus handlungsfähig ist. Das scheint der Hauptgrund dafür zu sein, dass diese Entscheidung getroffen wurde.» [3]
Beschränkung auf Impfstoffe
Die getroffenen neuen Regeln und «Klarstellungen» beziehen sich nur auf Covid-19-Impfstoffe. Medikamente und andere Technologien sind ausgeschlossen. Diese Beschränkung ist vor allem auf eine Initiative der USA zurückzuführen, die glaubte, dass so eher ein tragfähiger Kompromiss zu erreichen sei. Davon kann aber nicht die Rede sein. Innerhalb von sechs Monaten soll eine Entscheidung über eine eventuelle Ausweitung auf andere Produkte getroffen werden. Das heisst angesichts der notwendigen Einstimmigkeit aber nicht viel. Dabei wiederholt sich schon längst das makabre Spiel der ungleichen Verteilung bei Tests und Medikamenten.
Minimale Fortschritte
Die neuen Verbesserungen für die Versorgung mit Impfungen muss man mit der Lupe suchen [3]. […]
Einziger Lichtblick in der aktuellen WTO-Entscheidung ist die Aussetzung des Artikels 31 (f) des TRIPS-Vertrages, der vorschreibt, dass unter Zwangslizenz nur für den nationalen Markt hergestellt werden dürfe. Damit werden die komplizierten Ausnahmeregeln für den Export von unter Zwangslizenz produzierten Arzneimitteln in andere Länder vorübergehend ausser Kraft gesetzt. Das regelt seit 2003 der Artikel 31 (bis). Der umfasst fünf eng beschriebene Druckseiten und ist so kompliziert und umständlich, dass er bislang nur ein einziges Mal angewendet wurde: Apotex in Kanada produzierte HIV-Medikamente für Ruanda. Die Mittel konnten wegen des bürokratischen Verfahrens erst verspätet geliefert werden, und die Firma kündigte an, wegen des enormen Aufwands nie wieder unter dieser Regel exportieren zu wollen [5].
Irritierend ist allerdings die «Fussnote 1» in dem WTO-Beschluss. Sie fordert Länder mit existierenden Produktionskapazitäten ausdrücklich auf, auf die Nutzung der vereinfachten Bedingungen für Im- und Exporte freiwillig verbindlich zu verzichten – also ausgerechnet die Staaten wie Indien oder Südafrika, die am ehesten in der Lage sind, schnell Impfstoffe herzustellen.
WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala rechtfertigte diese Beschränkung in einem Briefing für NGOs während der aktuellen WTO-Verhandlungen mit dem angestrebten Aufbau von Produktionskapazitäten in Afrika und anderen Entwicklungsländern, die vor billiger Konkurrenz geschützt werden müssten [3].
Dabei sichert der von der WTO gefasste Beschluss weder den Technologietransfer (ein echter Waiver hätte auch die Rechte an Produktionsmethoden und die Nutzung der Zulassungsunterlagen ermöglicht), noch bietet er wegen seiner Befristung auf fünf Jahre Planungssicherheit für neue Produktionsstätten. Aber vielleicht ist das auch gar nicht ernsthaft gewünscht. […]
Die Macht bleibt im Westen
Trotz mehreren Milliarden Euro öffentlicher Gelder für die Impfstoff- und Medikamentenforschung und enormen Abnahmeversprechen der Industriestaaten, diktieren aber nach wie vor die Patentinhaber, wieviel Impfstoffe zu welchem Preis hergestellt werden und wer sie erhält.
Erst sahnten die Impfstoff-Firmen in den reichen Ländern durch hohe Preise beispiellose Milliardensummen an Gewinnen ab. Wesentlich dafür war die künstliche Verknappung durch die Weigerung, auch andere Hersteller die Impfstoffe produzieren zu lassen [7]. Nach 20-monatiger Verzögerungstaktik bei der Welthandelsorganisation WTO (die durch den Einfluss von Big Pharma auf einige Staaten getrieben war) können die Firmen selbst reichlich Impfstoff produzieren. Deswegen verwundert es nicht, dass sie nach wie vor nicht bereit sind, ihr Wissen zu teilen. Darüber können auch die Impfstoff-Fabriken in Containern, die Biontech jetzt in Afrika installieren will, nicht hinwegtäuschen – denn die Kontrolle bleibt im globalen Norden.
Big Pharma will sich jetzt und auch künftig am Rest der Welt eine goldene Nase verdienen. Die Kontrolle über die Technologien ist das Erfolgsrezept dafür – und dafür geht man auch über Leichen. Oder wie eine Kritikerin vor der Entscheidung anmerkte, es werde sich zeigen, ob die WTO für die Welt oder den Westen ist – letzteres zeigt der Beschluss. Der 17.6.2022 war ein schlechter Tag für die Weltgesundheit.
«In der langen Geschichte der Pharmakonzerne ist ihr wichtigstes Anliegen, Gewinne zu maximieren. Das ist ihr Geschäftsmodell. Gewinnmaximierung bedeutet Angebotsverknappung. Weil mit der Verknappung die Preise steigen. Und Preiserhöhungen steigern den Profit.»
Wirtschaftsnobelpreisträger Josef Stieglitz [8]
[1] Pharma-Brief (2022) Covax: Zu spät, zu wenig Covid-19 Impfstoff. Nr. 1, S. 2
[2] Open CSO letter to WTO Trade Ministers, «Access Campaign«, 15 June 2022
[3] ’t Hoen E (2022) WTO Covid-19 TRIPS Decision: Some observations. «Medicines Law & Policy«, 17 Juni 2022
[4] Love J (2005) Remuneration guidelines for non-voluntary use of a patent on medical technologies. WHO
[5] Love J (2022) The June 17, 2022 WTO Ministerial Decision on the TRIPS Agreement. «Knowledge Ecology InternationaI«, 17 Juni 2022[
[6] Vfa (2022) WTO-Entscheidung: Patentrecht politisch instrumentalisiert. Pressemitteilung, 17. Juni 2022
[7] Ausnahme war die Firma AstraZeneca, die schon früh die Produktion ihres Impfstoffs beim Serum Institute of India ermöglichte. Wobei auch hier die Kontrolle nicht abgegeben wurde.
[8] www.youtube.com/watch?v=dD8McADeWvs