Eine Erbschaft – sofern es sich um mehr handelt als Opas gemütlichen, mit Kindheitserinnerungen verknüpften Ohrensessel – kann das eigene Leben grundlegend verändern. Sie stellt soziale Sicherheit her oder eröffnet neue Gestaltungsmöglichkeiten. Das Prinzip der Erbschaft zementiert zugleich die Spaltung der Gesellschaft. In seinem Buch „Wir Nicht-Erben“ untersucht der Sozialwissenschaftler Rudolf Stumberger die ökonomischen, vor allem aber die sozialpsychologischen Folgen des Erbens. Der hpd hat mit ihm über „Sozialneid“ und Melancholie, Gesellschaft und Gefühle sowie Alternativen zum derzeitigen Modell dieser Form leistungslosen Einkommens gesprochen.

hpd: Herr Sturmberger, als ich ihr Buch gelesen habe, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die vor vierzig Jahren unsere Sozialkundelehrerin erzählte: Als 1969 zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine sozialliberale Koalition die Regierung übernahm, war ihre Oma ernsthaft besorgt und meinte zu ihrer Enkelin: „Jetzt werden sie mir wohl mein Häuschen wegnehmen.“ Waren Sie mit ähnlichen Befürchtungen konfrontiert?

Rudolf Stumberger: Ich hatte immer mehr Angst um unsere Villen im Tessin – ja, Scherz. Wie ich im Buch „Wir Nicht-Erben“ beschreibe, hatten schon die Großeltern nichts zu vererben – nicht ungewöhnlich für die in einer Großstadt lebende Arbeiterfamilie, eher der Normalzustand damals. Soviel ich weiß, haben die diversen Regierungen der Bundesrepublik die Eigentumsrechte nicht einmal angekratzt, und schon gar nicht eingeschränkt. Letzte Wohltat von Ex-Juso Schröder für die Arbeiterklasse war ja, den Finanzmarkt zu deregulieren und Unternehmerfamilien fette Erbgeschenke zu machen.

Wie lässt sich die heutige Gesellschaft in Deutschland hinsichtlich des Erbens denn einteilen?

 

Laut einer jüngsten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung geht fast die Hälfte des Erbschafts- und Schenkungsvolumens an die reichsten zehn Prozent der Begünstigten. Der Rest – also 90 Prozent – teilt sich die verbleibende Hälfte. Das heißt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung im Einzelfall kaum mehr als 40.000 Euro erbt, manche aber auch gar nichts. Die soziale Ungleichheit setzt sich durch die Erbschaften zugunsten einer kleinen Gruppe immer weiter fort.

Im Buch sprechen Sie auch von „altem Erben“ und „neuem Erben“. Was ist darunter zu verstehen?

Als das „neue Erben“ bezeichne ich die Erfahrung, dass aufgrund der langen Wohlstandsperiode seit den 1950er Jahren auch im Freundes- oder Bekanntenkreis plötzlich Erbschaften auftreten können. Erbt der Freund oder die Freundin dann zum Beispiel ein Haus der Eltern in einer Großstadt, kann das lebensverändernd sein. Diese Erfahrung entstehender sozialer Ungleichheit im nahen Umkreis ist vergleichsweise neu. Nicht neu ist hingegen das „alte Erben“, bei dem der Adel, das Großbürgertum oder Fabrikanten ihr Erbe an die Nachkommen weitergeben, so wie gehabt.

Der Fokus Ihrer Betrachtungen liegt zwar auf dem Erben, aber grundsätzlich geht es um eine sozialpsychologische Einschätzung der Folgen sozialer Ungleichheit für eine Gesellschaft. Wie lautet hier Ihr Befund?

Mir ging es um die Analyse der Gefühle, die durch soziale Ungleichheit verursacht werden, ein ziemlich vernachlässigtes Thema. Interessant ist zum Beispiel, wenn man sich mit dem „Neid“ respektive gar dem „Sozialneid“ beschäftigt. Ich meine, dieser Begriff ist wissenschaftlich gar nicht zu greifen und dient letztendlich lediglich dazu, bestehende Ungleichheiten und leistungslose Vermögen und Einkommen zu verteidigen. Was landläufig als Neid bezeichnet wird, ist aber ein komplexes Bündel von Gefühlen, darin das Empfinden sozialer Ungerechtigkeit, aber auch Trauer und Resignation. Und mir geht es um die seelischen Verwundungen, die durch empfundene soziale Ungerechtigkeit entstehen, zum Beispiel die Verbitterung.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gehen Sie davon aus, dass es emotionale Grundströmungen gibt, die in bestimmten historischen Phasen in einer Gesellschaft oder einzelnen sozialen Schichten vorherrschen. Welche Gefühle dominieren denn in Zeiten von „Wutbürgern“ und „Generation beleidigt“?

Der Wutbürger steht stellvertretend für die Gefühlslage derer, die sich durch die Modernisierungsprozesse abgehängt fühlen. Das ist nicht nur ökonomisch zu sehen, sondern auch kulturell. Der Kapitalismus ist ja mal wieder bei seiner Lieblingsbeschäftigung, das Alte gnadenlos zu verdampfen und fortwährend Neues zu schaffen. Seit der Beschleunigung des Neoliberalismus seit mehr als zwanzig Jahren in Zusammenarbeit mit der Digitalisierung fühlen sich viele Menschen überfordert, auch Junge sehnen sich nach Sicherheit und Überschaubarkeit der Lebensverhältnisse. Im Osten kommt die Entwertung der Biografien hinzu. Corona hat diesen Prozess der Entfremdung großer Bevölkerungsteile gegenüber den Eliten noch verstärkt. Die Gesellschaft des Zorns ist durch Covid-19 zwischendurch zu einer Gesellschaft der Angst geworden, doch die Wut bleibt ja und wird eher noch mehr.

Was bedeutet das beispielsweise für die verstörende Feststellung, dass Arbeitslose zu einem erstaunlich hohen Anteil eine Partei wählen, aus deren Programm völlig klar hervorgeht, dass sie nichts zur Verbesserung der Situation von Arbeitslosen zu tun gedenkt?

Ich glaube, dass viele AfD-Wähler aus Arbeiterhaushalten das gar nicht rational angehen, sondern sehr emotional: Denen da oben mal zeigen, dass man von ihnen die Schnauze voll hat. Handwerker etwa, die viel arbeiten, fühlen sich von den Eliten nicht respektiert. Freilich ist es tragisch, dass der Protest sich nicht nach links, sondern nach rechts wendet. Arbeitslose, die AfD wählen, sollten besser nicht in die Wahlprogramme der AfD hineinschauen. Es ist die überall beschworene „Alternativlosigkeit“, die die Modernisierungsverlierer auf die Palme bringt: Sie sind die Vergessenen, Überflüssigen, Dummen, Verachteten. Das macht keine gute Laune.

Kommen wir zurück zum Erben: Gibt es Beispiele, dass es anders und besser laufen kann als derzeit in Deutschland?

Es gab historisch schon Zeiten, in denen die Einkommens- und Erbschaftssteuer 70 Prozent und mehr betrug, zum Beispiel in den erzkapitalistischen USA, aber auch im Großbritannien der Nachkriegszeit. Vor allem bei dem „alten Erben“ geht es um die Frage, wie eine Gesellschaft, die sich angeblich auf das Leistungsprinzip beruft, die Unterhöhlung dieses Prinzips durch leistungslose Vermögen wie Erbschaften aushält. In Zukunft, sagt der französische Ökonom Thomas Piketty, wird das Erben darüber bestimmen, wie man lebt. Und nicht mehr der Beruf. Dann mal viel Spaß mit denen, die heute schon als „Wutbürger“ durch die Gegend laufen.

Rudolf Stumberger: Wir Nicht-Erben. Kleiner Ratgeber zum Umgang mit tabuisierten Gefühlen. Aschaffenburg, Alibri 2020, 126 Seiten, kartoniert, 12 Euro, ISBN 978-3-86569-329-7

Der Originalartikel kann hier besucht werden