Es schüttete aus Eimern, als ich Ana begegnete. Hätte es das nicht, sodass ich mit meinen Einkäufen in einer nahegelegenen Kirche Unterschlupf suchen musste, hätte ich diese liebenswerte, ältere Dame im mobilen Rollstuhl vermutlich gar nicht kennengelernt, die in genau dieser Kirche sahs.
Ich kann mich gut an ihren lustigen Gesichtsausdruck erinnern, als ich mir den tropfnassen Mantel auszog um mir keine Erkältung zu holen. „All diese jungen Leute! Als ich jung war, haben wir noch im Regen getanzt!”, schmunzelte sie, während ich meinen Mantel über die Heizung legte. Dieser Kommentar war der Beginn einer wunderbaren Unterhaltung, während der Regen draußen gegen das Fenster prasselte und uns sprichwörtlich in der Kirche einsperrte.
Wie sich herausstellen sollte, hatte Ana ein ziemlich aufregendes, aber auch tragisches Leben hinter sich: Sie hatte beispielsweise den Spanischen Bürgerkrieg miterlebt, gegen dessen Ende sie zu Fuß über die Pyrenäen nach Frankreich geflohen ist, wo sie bald darauf als Widerstandskämpferin die Naziherrschaft und den zweiten Weltkrieg erlebte. Anas bewegende Geschichte und die Tatsache, dass sie, nun im Rollstuhl, vor kurzem das dritte Mal mit Krebs diagnostiziert worden war, standen ganz im Gegensatz zu ihrer positiven Lebenseinstellung – sie glühlte förmlich vor Energie!
„Am Ende müssen wir doch alle sterben, nicht?”, meinte sie. „Es geht vielmehr darum, wie wir bis dahin gelebt haben; ob wir die Welt zum Beispiel zum besseren Ort gemacht haben oder darum, dass wir alles, was wir nicht verändern können, dankbar annehmen lernen: das Gute, das Schlechte; die großen, vor allem aber die kleinen Dinge, die uns tagtäglich begegnen.“ Was für ein unglaubliches Statement, nachdem man so viel erlebt hat, dachte ich, als ich später, nachdem der Regen aufgehört hatte, die Kirche wieder verließ. Wie oft man wohl nicht dankbar genug ist ohne sich dessen aufrichtig bewusst zu sein?
Sind wir dankbar?
Viele Geschichten erzählen von Undankbarkeit – besonders dann, wenn man doch alles Erdenkliche zu haben scheint. Die biblische Geschichten von König David oder Salomon beispielsweise erinnern beide an Könige, die doch nahezu alles auf dieser Welt Wünschenswerte besaßen und doch nicht zu schätzen wussten, dennoch nach mehr verlangten. Sie zeigen deutlich, dass Undankbarkeit, vielleicht gar Arroganz mit großer Gefahr zu fallen einhergehen. Auch wenn diese Beispiele extrem erscheinen mögen, so wird doch offensichtlich, was mancher vielleicht passiv gar nicht wahrnimmt: Erachtet man nicht oft Dinge als selbstverständlich, schätzt Dinge dann, wenn sie nicht mehr da sind oder die der Nachbarn und übt sich nicht unbedingt immer angemessen in Dankbarkeit – vielleicht auch, weil man zu oft zu beschäftigt ist und keine Zeit hat für eine Sekunde innezuhalten und den Moment wertzuschätzen? Wer von uns kann schon behaupten, immer alles angemessen wertzuschätzen? Vermutlich niemand, der ehrlich ist.
Ist es nicht seltsam, dass in Gesellschaften, in denen Bürger ein relativ gutes Leben genießen können, viele beginnen, sich ernsthaft über im Grunde so triviale Punkte wie das regnerische Wetter, den erneut unfreundlichen Kollegen, der sich einfach nicht benehmen will oder die zehn Minuten zu spät, deswegen lauwarm gelieferte Pizza zu beschweren? Man kann sogar einen Schritt weiter gehen. Viele in so mancher westlichen Gesellschaft, die mit relativ guter Ausbildung, Meinungsfreiheit oder stabilem Frieden einiges, wenn nicht alles, wovon die Großeltern im Weltkrieg noch träumten, bietet, sehen das inzwischen als Status-quo an. Oftmals wird das daher nicht nur unterbewusst nicht wertgeschätzt, wenn man sich zum Beispiel über die momentanen Lockdownregeln beschwert, während nicht wenige in Indien auf offener Straße sterben, weil kein Sauerstoff mehr verfügbar ist. Muss denn erst so etwas Essentielles wie Sauerstoff zur neuen Währung ernannt werden müssen, damit man eine Sekunde innehält und darüber nachdenkt, wie beschenkt man eigentlich ist?
Die extremen Vergleiche sollen nicht dee Wichtigkeit persönlicher Sorgen und Ängste anzweifeln, aber dazu mahnen, sich jederzeit ins Gedächtnis zu rufen, wie unglaublich beschenkt doch jeder Einzelne von uns eigentlich ist. Bist Du zum Beispiel dankbar dafür, gesund zu sein? Krebspatienten wünschen sich nichts sehnlicher als das und viele ernsthaft erkrankte Covid-Patienten mehr Zeit, die ihnen nun nicht mehr bleibt. Bist Du dankbar dafür, Deine Meinung frei äußern zu dürfen? In manchen Ländern sollten vor allem Frauen eher davon absehen und man muss weder zeitlich noch geographisch allzu weit reisen, um Fälle zu finden, in denen Menschen ihrer Überzeugung wegen verfolgt und vielleicht sogar getötet werden. Bist Du dankbar dafür, Dein Leben relativ frei nach Deinen Vorstellungen gestalten zu dürfen? Jahrhundertelang träumten Sklaven davon, so frei zu sein wie viele von uns es heute de facto sind. Erschreckenderweise träumen sie in manchen Ländern noch immer.
Es gibt und muss immer etwas gegeben, wofür man dankbar sein kann – selbst inmitten der undenkbarsten Umstände wie die Geschichte von Ana zeigt. Man muss entweder genauer hinsehen oder, noch besser, die Wahrnehmung verändern. Am Ende ist alles ein Geschenk und selbst das größte Unglück mag sich am Ende als ein Segen heraustellen. Lasst uns daher, gerade während Covid, nicht so sehr über das Wetter beschweren, sondern vielmehr lernen im Regen zu tanzen.