Trotz der von Regierungen weltweit auferlegten Beschränkungen und der dramatischen Covid-19-Infektionszahlen gelingt es den Kämpfen und dem Widerstand, neue Ausdrucksformen zu finden. Das zeigt unser Rückblick auf den Besuch der Zapatistas in Berlin im Oktober 2021.
Nach 47 Tagen auf See war die segelnde zapatistische Delegation am 22. Juni 2021 in Praia do Carril im Hafen von Vigo in Spanien von Bord gegangen. Fünf Jahrhunderte nach der spanischen kolonialen Invasion und dem Fall der mexikanischen Stadt Tenochtitlan begann mit der Ankunft des siebenköpfigen sogenannten „Escuadrón 421“ der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) eine neue Art dekolonisierender und rebellischer Invasion. Das „Escuadrón“ war von Islas Mujeres in Mexiko aus in See gestochen, um die „Reise für das Leben“ anzutreten – eine internationale Tournee, die ab September 2021 Hunderte von Zapatist*innen nach Europa bringen würde. Über mehrere Monate lang wollten sie sich mit denjenigen treffen, die auf dieser Seite des Atlantiks für ein würdiges Leben und gegen die Todespolitik des kapitalistischen Systems kämpfen.
Reisevorbereitungen „von unten und links“
Die im Oktober 2020 mit dem Kommuniqué „Una montaña en alta mar“ („Ein Berg auf hoher See“) angekündigte Idee wurde in der „Declaración por la Vida“ („Erklärung für das Leben“) im Januar 2021 zu einer „gemeinsamen Invasion von europäischen Organisationen und der EZLN“ konkretisiert. Dem größten Teil der zapatistischen Delegation gelang es dann, sich nach Durchlaufen komplizierter Vorbereitungen (Impfungen, Bürokratie, politische Blockaden und Quarantänen) dem Escuadrón 421 anzuschließen.
Am 14. September trafen mehr als 170 Personen auf dem Wiener Flughafen in Österreich ein. Aufgeteilt in 28 sogenannter Zuhör- und Wort-Gruppen „Escucha y Palabra“ und gemeinsam mit Vertreter*innen des mexikanischen Nationalen Indigenen Kongresses (CNI), angeführt von Subcomandante Insurgente Moisés, machten sich auf den Weg. In den europäischen Ländern begann ein internationales Netzwerk lokal engagierter sozialer und politischer Gruppierungen, feministischer, migrantischer und antikolonialer Bewegungen, sowie freier Medienschaffender, den Besuch „von unten und von links“ vorzubereiten.
Die Zapatistas in Berlin, dem „verwundeten Herz der Festung Europa“
Die Begrüßung in Berlin fand dann am 4. Oktober im Prinzessinnengarten am Kreuzberger Moritzplatz statt, einem kleinen selbstverwalteten Garten inmitten der Hauptstadt. Dort begrüßte eine Vielzahl von Kollektiven und Aktivist*innen eine Gruppe von Zapatistas. Den Anfang machte der Verein Xochipilli, deren Mitglieder ihnen zu Ehren Tänze der Chichimeca aufführten und den traditionellen mesoamerikanischen Gruß „an die sechs Himmelsrichtungen“ vollzogen: Norden, Süden, Osten, Westen, den Himmel und die Erde – la Pachamama. Darauf richteten Vertreter*innen der Organisation des Besuchs in Berlin ihre Willkommensworte auf Spanisch und Deutsch an die Delegation der Zapatistas aus Chiapas und zahlreiche interessierte Gäste.
„Für die zapatistischen Kamerad*innen, die Delegierten der rebellischen Luftkräfte. An die Kamerad*innen, die in Berlin kämpfen, dem verwundeten Herzen der Festung Europa. (…) Wir kommen aus so vielen verschiedenen Ecken des Planeten um in diesen Zeiten der globalen Krise zu lernen, Erfahrungen zu sammeln, Hoffnung zu hegen und zu rebellieren. Die kapitalistische Todesmaschinerie quetscht den Planeten aus wie eine Orange. Sie vergiftet unser Land, das Land aller. Sie vergiftet unsere Luft, tötet unsere Wälder, verschmutzt unsere Nahrung und verführt uns zu endlosem Konsum. Rebellische Würde war noch nie so notwendig wie heute. (…) Wir haben schon von Weitem von Euch gehört, das Wissen um Euch hat in unseren individuellen und kollektiven Körpern Funken entzündet. Körper, die bereits voller Erinnerung und Vorstellung waren, die bereits wussten, wie man mit dem Wunsch brennt, alles zu verändern und die mit einem hellen Funken entzündet werden können.(…) Wir sind sehr aufgeregt und von Emotionen überwältigt. Unsere Nerven tanzen davon.“
Nach dieser Begrüßung, dem Erklingen der zapatistischen Hymne und einigen in die Luft gestreckten Fäusten wurden der Delegation eine Pachamanka, ein in indigenen Gemeinschaften des Andenraums übliches Gericht, sowie auch einige iranische Speisen angeboten.
Vom Oranienplatz zur „kulturellen Nacht“
Während der kommenden Tage ihres Besuchs in Berlin trafen sich die Zuhör- und Wortgruppen der zapatistischen Delegation mit verschiedenen Kollektiven und politisch aktiven Gruppierungen in der Stadt „um zuzuhören, sich kennenzulernen und Erfahrungen im Kampf auszutauschen“. Dabei waren die Kiezkommune Wedding und die Gruppe Hände weg vom Wedding, die Organisation Women in Exile, die Gruppe Wipala, Palästina Spricht, Voces de Guatemala, die Migrant*innengurppe Migrantifa, der Bloque Latinoamericano und andere intersektionelle und feministische Gruppen sowie Organisationen zur Unterstützung politisch Inhaftierter.
Mitte der Woche fand die erste öffentliche Demonstration der Zapatistas auf dem symbolträchtigen Oranienplatz in Kreuzberg statt. Dieser wird seit dem Jahr 2016 als symbolischer Ort antirassistischer Kämpfe und Demonstrationen gegen die tödliche Politik an den Außengrenzen Europas genutzt. Vom Oranienplatz aus ging es nach Redebeiträgen weiter zur sogenannten “Kulturellen Nacht”, der “noche cultural”, im Hof der Buchhandlung L&L im Bezirk Schöneberg. Hier boten Kunst und Kultur schaffende Kollektive eine Veranstaltung mit Redebeiträgen und Musik unter dem Motto „Kunst und Widerstand“ dar, die vom Radio Matraca durch einen Livestream online verbreitet und aufgezeichnet wurde. Die Mapuche-Musikerin Eli Wewenxtru betrat mit ihrer Geige die Bühne.
„Mein Name ist Elli Wewemtxru, ich bin Mapuche. Ich werde eine eigene Komposition spielen, deren Mapuche-Name „Mayün“ übersetzt „Regen“ bedeutet. Ich erzähle von meinen Erinnerungen an den Regen und meinen Gefühlen dazu. Mein Lied ist eine Fürbitte, dafür dass es regnet. Wie ihr wisst, haben wir in Walmapu in Chile ein großes Problem mit der Trockenheit, das von der chilenischen Regierung dort kreiert wurde und das mit der Kolonialisierung zu tun hat. Einen großen Teil unseres Territoriums haben sich Kolonialisten durch Besetzung genommen. Sie haben die Gebiete dann in die Hände großer Firmen gegeben und so dem Extraktivismus ausgesetzt. Daher werden heute dort Monokulturen von Pinien und Eukalyptus gepflanzt, was die Erden austrocknet und dazu führt, dass bald kein Mensch mehr von den Böden leben kann. Mein Lied ist also auch ein Lied der Anklage dieser Verbrechen.“
Mit dem Piratenschiff zur Großdemonstration
Der Kulturabend war der perfekte Auftakt, um sich auszutauschen und gemeinsam auf die Großdemonstration am nächsten Tag vorzubereiten. Die „Demonstration für das Leben“ / „Marcha por la Vida“ am 8. Oktober begann an der Marschallbrücke in Berlin-Mitte: In einem symbolischen Akt gingen die Zapatistas von einem Piratenschiff, das die Spree hinauffuhr, an Land. Von dort aus zog die Demo mit indigener Musik, antikapitalistischen Sprechchören und Fahrradklingeln durch die Straßen der Berliner Innenstadt. Vorbei an den Bürogebäuden deutscher Unternehmen und multinationaler Konzerne, die an verschiedenen Megaprojekten in den Ländern des globalen Südens beteiligt sind: die Deutsche Bahn, die Deutsche Bank, der Gas- und Ölkonzern Wintershall, das chemisch-pharmazeutische Konsortium Bayer-Monsanto, Siemens, Hekler und Koch, um nur einige zu nennen.
Durch den Lautsprecherwagen wurden die Demonstrant*innen und Passant*innen über das gigantische Infrastrukturprojekt namens Tren Maya in Mexiko informiert: sechs Milliarden Euro für 1.500 Kilometer Schienen, Schnellzüge, die mit 160 Stundenkilometern durch die indigenen Territorien rasen. Mit dem Projekt wolle sich der mexikanische Präsident López Obrador baulich verewigen. Der Zug soll die Badeorte an der mexikanischen Karibikküste mit den Maya-Ruinen auf der Halbinsel Yucatán verbinden und bis nach Palenque im Bundesstaat Chiapas führen. In den Gebieten ansässige indigene Gemeinschaften empören sich von Beginn an über die Wahl des Namens „Maya-Zug“. Sie fordern die Pläne des Baus zu stoppen, da ihnen die Konvention 169 international das Recht zusichert, selbst über die Nutzung ihrer Territorien zu entscheiden.
Die Beteiligung an dem Projekt durch deutsche Unternehmen wie TÜV Rheinland, der deutschen KfW IPEX-Bank, der Deutschen Bahn wird seit längerem durch die Deutsche Botschaft in Mexiko voran getrieben. Nach Recherchen der Tageszeitung TAZ im Sommer 2021 plane die DB Engineering & Consulting GmbH, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn mit etwa 8,6 Millionen Euro als so genannter Shadow Operator den Betriebsablauf des Tren Maya. Der Vertrag laufe seit Dezember 2020 für insgesamt drei Jahre. Die Deutsche Bahn sei Recherchen der Tageszeitung immer wieder ausgewichen.
Der Protestzug der Zapatista-Demonstration am 8. Oktober endete dann beim Humboldt Forum, dem millionenschweren Museum im neu errichteten preußischen Berliner Schloss. Hier werden in kolonialer Tradition verschiedene von indigenen Gruppen aus Ländern des Globalen Südens gestohlene und beanspruchte Gegenstände und Gebeine ausgestellt.
Die zapatistische Delegation setzte ihre Reise,nach einer Woche voller Treffen mit lokalen Initiativen Berlins, fort. Sie machten sich auf den Weg nach Hamburg, Leipzig, Frankfurt und anderen Städte in Deutschland, bevor sie sich dem Schwarm anschlossen, der weiter nach Frankreich und Polen reiste.
Wenn die alte Normalität zu einer Katastrophe geführt hat, muss eine neue Normalität aufgebaut werden
In Berlin hallte das Echo ihres Besuchs noch lange wieder, ebenso die Freude über ihre Begegnung, neue Allianzen von involvierten lokalen Gruppen und die Erfahrung des gemeinsamen Bewusstseins über globale Verbindungen antikapitalistischer Kämpfe. Um die weltweit agierende „kapitalistische Todesmaschinerie“ weiter zu attackieren, setzten Berliner Initiativen den Austausch über die geschaffenen Kanäle fort. Beim Aktionstag gegen die Beteiligung deutscher Unternehmen beim Tren Maya am 30. Oktober zeigten sich bereits ein paar Früchte des von den Zapatistas angestoßenen Prozesses: die Notwendigkeit von Solidarität und internationalem Widerstand an allen Orten.
Heute zwingt uns auch die globale Krise der Pandemie dazu, uns eine andere Welt vorzustellen. Es ist die Rede von einem zivilisatorischen Wandel und einer neuen Normalität. Wenn die alte Normalität zu der Katastrophe geführt hat, die wir heute erleben, muss gemeinsam eine neue Normalität aufgebaut werden. Dafür brauchen wir jenes Wissen und die Fähigkeiten, mit denen indigene Gruppen Lateinamerikas in den vergangenen 500 Jahren die Saat für eine neue Welt gehütet haben.
Dafür brachte die zapatistische Delegation weder Rezepte noch Antworten mit nach Europa, sondern viele Fragen und die Gewissheit, dass der einzige Ausweg darin besteht, sich der Herausforderung gemeinsam und „von unten“ zu stellen. Wie einer der Sprecher des Nationalen Rates der Indigenen (CNI) es ausdrückte, geht es dabei um Folgendes:
„Zu dienen und nicht sich selbst zu dienen,
zu bauen und nicht zu zerstören,
zu vertreten und nicht zu verdrängen,
zu überzeugen und nicht zu erobern,
zu gehorchen und nicht zu befehlen,
nach unten zu gehen und nicht nach oben,
vor zu schlagen und nicht auf zu zwingen.“
Zu diesem Text gibt es einen wunderbaren Audiobeitrag bei Radio Matraca!