Das Ende des 1. Weltkriegs lag gerade 3 Jahre zurück, die Revolution in Bayern und in Deutschland war blutigst niedergeschlagen worden. Da kam es vom 10. April bis 19. Mai 1922 in Genua auf Einladung der Engländer zur internationalen Finanz- und Wirtschaftskonferenz, an der außer Amerika und der Türkei (sie wollten mit den Sowjets nicht verhandeln) alle am 1. Weltkrieg beteiligten Staaten teilnahmen.
Der britische Premier David Lloyd George präsentierte unter großer Skepsis der Anwesenden seinen Plan zur wirtschaftlichen und politischen Befriedung Europas. Kein leichtes Unterfangen, denn es sollte über nichts weniger verhandelt werden als den Wiederaufbau der zerrütteten Volkswirtschaften gerade Mittel- und Osteuropas und das Verhältnis zwischen den kapitalistischen Staaten und der diplomatisch noch nicht anerkannten Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik.
Schnell machte sich in Genua unter den Teilnehmern Nervosität breit, denn z.B. Deutschland befürchtete – sicher zurecht – dass der Sack um die Reparationszahlungen aus dem Versailler Vertrag noch einmal aufgemacht werden könnte. England und Frankreich schrieb man keine wirklich europäischen Absichten zur Wirtschaftsförderung zu, sondern nur die Verfolgung von – eher gegen Deutschland gerichtete – Eigeninteressen. Eine Vertrauensbasis sieht anders aus.
Der Machtpoker der Männerverhandler stützte sich auf die alten Seilschaften aus dem Patriarchat, der kapitalistischen Wirtschaft und der Militärs und nahm so seinen Lauf. Und wie Lida Gustava Heymann, Friedensaktivistin, schon so treffend kurz nach der Erreichung des Frauenwahlrechts und der trotzdem geringen Vertretung von Frauen in Verhandlungen sagt: „Jetzt haben wir in den Parlamenten dieselben altersschwachen Greise und Parteigötzen, die die verbrecherische Kriegspolitik mitgemacht haben“.
Am Ostersonntag, dem 16. April kam es zu nächtlichen Geheimverhandlungen zwischen der russischen und der deutschen Delegation, die als die „Pyjamaparty“ von Rapallo – dem Nachbarort von Genua, wo die russische Delegation untergebracht war – in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Mit dabei der neue Außenminister Walther Rathenau, der Staatssekretär im AA von Maltzahn und der deutsche Boschafter in Moskau. Es war eine Art „Zweckbündnis von Parias“ zur Beendigung internationaler Isolation. Die Weichenstellung war aber auch eindeutig gegen Polen gerichtet. Für Teile der deutschen Rechten, besonders in der Reichswehrführung, wurden in der Folge geradezu abenteuerliche Spekulationen über die Wiederherstellung Deutschlands und Russlands „in den Grenzen von 1914“ erwogen.
Der nur 3-seitige Inhalt des Vertrags von Rapallo war vergleichsweise dürftig – aber wegweisend für die ausschließlich militärisch und machtpolitische Denkweise, die dahinter stand. Er bestätigt u.a. den deutschen Verzicht auf Entschädigungen für sozialisiertes Eigentum in Russland und die Errichtung von Handelsbeziehungen nach dem Grundsatz der „Meistbegünstigung“ (das heißt, die Vertragspartner wollten sich gegenseitig die vorteilhaftesten Handelsbedingungen einräumen, die sie auch anderen Staaten gewährten).
Die Absichtserklärung für wirtschaftliche Zusammenarbeit mag im ersten Moment durchaus interessant klingen: „Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen. Bei einer grundsätzlichen Regelung dieser Frage auf internationaler Basis werden sie in vorherigen Gedankenaustausch eintreten“. Ein rein taktisches Entgegenkommen!
Die Folgen der Geheimverhandlungen und die Unterzeichnung des Vertrags in Rapallo glichen jedoch einer politisch-publizistische „Bombe“ – und sie waren insgesamt verheerend. Die Westmächte standen dem Vertrag von Anfang an mit tiefem Misstrauen bzw. Ablehnung gegenüber. Sie fürchteten – wahrscheinlich zurecht – dass sich das Deutsche Reich aus der Abhängigkeit vom Westen lösen werde und eine erneute Aufteilung Polens plane. Außenminister Rathenau wurde ein halbes Jahr später durch rechtextreme (und anti-semitische) Täter ermordet.
Eine dramatische Verbindung in der Denkweise zum Molotow-Ribbentrop-Pakt, auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt, vom 24. August 1939 ist nicht von der Hand zu weisen. Der Pakt garantierte dem Deutschen Reich zunächst die sowjetische Neutralität für den vorbereiteten Angriff auf Polen und den Fall eines möglichen Kriegseintritts der Westmächte. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 brach Hitler diesen Vertrag.
Auch bis weit in den 1990er Jahren hallten so manche Schrecken und Ängste vor diesen Pakten nach. Gerade zum Ende der Blockkonfrontation, der Öffnung des Eisernen Vorhangs waren diese unter den westlichen Verbündeten deutlich zu spüren.
Was macht den Rapallovertrag aber gerade aus friedenspolitischer Sicht aus: Frieden, oder eine Befriedung internationaler Beziehungen zum Wohle der vom Krieg so schwer betroffene Zivilbevölkerung, waren nie die Grundlage der Verhandlungen. Es ging ausschließlich um Machtpolitik mit verheerenden Wirkungen. Es blieb den wenigen Pazifist*innen in Deutschland überlassen, sich kontinuierlich und unter schwierigsten Bedingungen für universelle Abrüstung, Völkerfreundschaft, Friedenserziehung und gegen den aufkommenden Faschismus einzusetzen. So wie Constanze Hallgarten, Anita Augspurg u.a. dann bereits 1923 die Ausweisung Hitlers aus Deutschland forderten, für den Völkerbund warben und zur Versöhnung mahnten. Sie wurden 1933 gleich nach der Machtübernahme ins Exil gezwungen oder ins Konzentrationslager geschickt.
Auch trotz der quasi völkerrechtlichen Anerkennung der Sowjetrepublik durch den Rapallovertrag, konnte keine Seite vorhandene Feindbilder überwinden. Sie diente nur den Interessen einer industriellen und militärisch orientierten Führungsschicht, die u.a. ungebrochen mit Hilfe von „Selbstschutzorganisationen“ über große finanzielle Mittel und illegale Waffenlager verfügte. Die deutsche Rüstungsproduktion lief geheim weiter, wenn auch außerhalb der Landesgrenzen, denn unter dem Tarnnamen »Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen« wurden zusätzlich Produktionsstätten aufgebaut wie ein von Junkers betriebenes Flugzeugwerk in Fili bei Moskau, eine Fabrik für Giftgase an der Wolga und in verschiedenen russischen Werken zur Herstellung von Artilleriemunition. Gleichzeitig konnte die Sowjetunion beim Aufbau ihrer Rüstungsindustrie und bei der Entwicklung moderner schwerer Waffen (Panzer, Flugzeuge, Artillerie) die Hilfe deutscher Experten in Anspruch nehmen. Dafür fuhren Reichswehroffiziere nach Russland zur Ausbildung der roten Armee an diesen Waffen, die Deutschland aufgrund des Versailler Vertrages weder besitzen noch herstellen durfte.
Verhandlungen und Diplomatie sind die Grundlagen allen präventiven Handelns. Sie dürfen nicht unter permanentem Aufrüstungs- und Bedrohungsdruck – einschließlich einer nuklearen Teilhabeoption – geführt werden. Frauen müssen in alle Formate auf allen Ebenen eingebunden sein, um der Sorge um das Leid der Menschen im Krieg Ausdruck zu verleihen, um Ängste vor unbeherrschbarer Gewalt ernst zu nehmen und um jetzt in zunehmenden Maße auch die ökologische Bedrohung des ganzen Planeten durch Krieg und Gewalt einzuschließen. Keine militärischen Allianzen dürfen diesen Dialog dominieren.
Kriege lassen sich nicht gewinnen, sondern nur austrocken durch eine ehrlich gemeinte Friedenspolitik.
Daran mahnt auch der Vertrag von Rapallo!