Von der Bühne aus werden Stella Morris, die Frau von Julian Assange, und die Enthüllungsjournalistin Stefania Maurizi die anwesenden Journalist:innen auffordern, den Gründer von Wikileaks zu verteidigen. Außerhalb des Saals wird eine Gruppe von FREE ASSANGE Italia-Aktivist:innen den Journalist:innen deutlich machen, dass auch ihre Freiheit auf dem Spiel steht.

Von Patrick Boylan, Rom

Julian Assange, der australische Enthüllungsjournalist, der US-Kriegsverbrechen in Afghanistan und im Irak aufgedeckt hat und seit drei Jahren in London inhaftiert ist, ist definitiv ein Problem für den Mainstream-Journalismus. Die US-Regierung, die Assange ausliefern und für bis zu 175 Jahre inhaftieren will, hat lange Zeit Druck auf die großen westlichen Nachrichtenmedien ausgeübt, damit sie die Berichterstattung über den Fall einstellen.

In ähnlicher Weise hat Washington auch Druck auf den Internationalen Strafgerichtshof ausgeübt, die möglichen Verbrechen von US-Soldaten in Afghanistan und im Irak nicht zu untersuchen.

So herrscht ein nahezu perfektes Schweigen in der Presse, während gleichzeitig eine unbemerkte juristische Ungeheuerlichkeit stattfindet, nämlich die faktische Akzeptanz von US-Justizinterventionen in aller Welt, um „störende“ Journalist:innen zum Schweigen zu bringen. Unabhängig von der Nationalität dieser Journalist:innen oder dem Land, in dem sie tätig sind, werden sich die Vereinigten Staaten in Zukunft ermächtigt fühlen, sie unter Berufung auf den Fall Assange zu schnappen und in eines der Gefängnisse von Uncle Sam zu bringen, sogar auf Lebenszeit. Es ist leicht vorstellbar, welche einschüchternde Wirkung dies auf alle Journalisten haben wird.

Um dieses gefährliche Schweigen der Presse zu brechen, hat die 16. Ausgabe des Internationalen Journalismus-Festivals (in Perugia, vom 6. bis 19. April) mutig eine Veranstaltung zum Thema „Assange und WikiLeaks: Pressefreiheit auf dem Prüfstand“ geplant. Stella Morris, Anwältin und Ehefrau des WikiLeaks-Gründers, die Enthüllungsjournalistin Stefania Maurizi (von Il Fatto Quotidiano und in der Vergangenheit von Espresso und La Repubblica) und Joseph Farrell, weltweiter Botschafter der WikiLeaks-Website, werden sprechen.

Die 600 Journalisten, die an dem Festival teilnahmen, wurden außerhalb des Saals von Aktivist:innen von FREE ASSANGE Italien umgeben, die ihnen einen leidenschaftlichen Appell überbrachten, das Schweigen der Presse zum Fall Assange zu brechen, wenn sie zu ihren jeweiligen Zeitungen zurückkehren.

„Wir müssen die Leser:innen aller Zeitungen wissen lassen“, so die Aktivist:innen, „dass mit der gerichtlichen Verfolgung von Julian Assange auch die Meinungs- und Pressefreiheit in Gefahr ist.“

Hier ist der Text ihres Appells:

Liebe Journalist:innen,

wir sind zu euren Internationalen Journalismusfestival gekommen, um über die Notlage eines eurer Kollegen zu berichten, der in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt ist, nur weil er seinen Job als investigativer Reporter macht und die Missstände und korrupten Machenschaften von Regierungen und mächtigen Leuten aufdeckt.

Die Rede ist natürlich von Julian Assange.

In diesen schrecklichen Tagen, die von Bildern der Zerstörung, des Todes und der Verzweiflung in der Ukraine geprägt sind, sehen wir, wie ihr alle darauf bedacht seid, Massaker und Kriegsverbrechen anzuprangern. Genau das, was Julian Assange sein Leben lang aufgedeckt und angeprangert hat.

Allerdings mit einem Unterschied. ihr enthüllt und geißelt die Kriegsverbrechen Russlands, eines Landes, das die US-Regierung als „Feind“ eingestuft hat. Das ist also journalistische Arbeit „im Dienste der Wahrheit“, wie ihr gerne verkündet – nur ist es eine sehr bequeme Wahrheit.

Assange hingegen hat die Kriegsverbrechen der NATO in Afghanistan und im Irak aufgedeckt und angeprangert – jene, welche die US-Regierung vertuschen will und die nicht einmal der Internationale Strafgerichtshof untersuchen soll. Julians journalistische Arbeit steht also, wie eure, „im Dienste der Wahrheit“ – nur dass es sich um eine sehr unbequeme Wahrheit handelt.

So unbequem, dass das US-Justizministerium die Verbreitung dieser Wahrheiten nach den Bestimmungen des Spionagegesetzes von 1917 mit bis zu 175 Jahren Gefängnis bedroht sieht.

Aber wo wart ihr denn? Wo wart ihr, als Julian Assange die Kriegsverbrechen des Westens in Afghanistan und im Irak aufdeckte?

Wir haben nicht den Eifer und die Empörung gesehen, die ihr heute so bereitwillig an den Tag legt, wenn ihr Russland anprangert, während wir (die Guten, die Liebhaber:innen der Demokratie) die Gräueltaten begangen haben. Wir haben keine Live-Übertragungen oder Marathon-Nachrichtensendungen gesehen, in denen die Gräueltaten aufgedeckt wurden, die wir und unsere Verbündeten in Afghanistan, im Irak oder in Libyen begangen haben und die wir heute in Syrien, Palästina, im Jemen und in der Sahel-Zone begehen.

Mit einer Ausnahme. Wir haben einen australischen Journalisten erlebt, der es fast im Alleingang gewagt hat, diese Schrecken an die Öffentlichkeit zu bringen, sie ans Tageslicht zu bringen. Selbst wenn diese Verbrechen – einschließlich Folterungen, bei denen einem schon übel wird, wenn man nur davon hört – von uns, den Guten, begangen wurden. Dieser australische Journalist hat sogar eine ausgeklügelte Website, Wikileaks, eingerichtet, um anonym Beweise für die Verbrechen zu sammeln, über die er berichtete. Und deshalb wird dieser Journalist seit 2010, als er das berühmte Video „Collateral Murder“, dieses makabre Videospiel, erstmals veröffentlichte, von den Vereinigten Staaten verfolgt.

Seit 2012 ist Assange seiner Freiheit beraubt, und seit dem 11. April 2019 sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher in Untersuchungshaft, wo er der von UN-Berichterstatter Nils Melzer und mehr als 60 medizinischen Folterexperten angeprangerten Folter ausgesetzt ist.

Und ihr? Auf welcher Seite steht ihr?

Nachdem ihr seine Enthüllungen, zumindest anfangs, für eure Artikel herangezogen habt, könnt ihr heute kein einziges Wort zur Verteidigung von Julian Assange sagen? Nachdem ihr zu der Schlammschlacht beigetragen haben, die ihn in den Augen der öffentlichen Meinung demontiert hat, könnt ihr heute nicht ein einziges Wort verlieren, um ihn zu rehabilitieren? Zum Beispiel, indem ihr eure Leser:innen – die vielleicht eure Artikel gelesen haben, in denen ihr Assange der Vergewaltigung beschuldigt – darüber informiert, dass das alles eine Lüge war und der Fall abgeschlossen ist?

Könnt ihr eure Leser:innen nicht über den Plan der CIA informieren, Assange zu entführen oder zu töten, wie von Yahoo News enthüllt? Und seine wahrscheinliche Auslieferung an genau das Land verurteilen, das seine Ermordung geplant hat?

Könnt ihr euren Leser:innen nicht erklären, dass es keine einzige WikiLeaks-Enthüllung gibt, die sich als falsch erwiesen hat, keine einzige Enthüllung, die die Sicherheit eines Landes oder einer Person gefährdet hat. Die einzige Sicherheit, die bedroht wurde, ist die falsche Sicherheit des Westens, die er erlangt hat, nachdem er überall auf der Welt völlig ungestraft Kriegsverbrechen begangen hat.

Sind das keine „relevanten Fakten“? Fühlt ihr euch nicht verpflichtet, eure Leser:innen darüber zu informieren, aus Respekt vor eurem Beruf?

Am kommenden 20. April wird die britische Innenministerin Priti Patel auf ihrem Schreibtisch den Gerichtsbeschluss vorfinden, der die Auslieferung von Assange an die Vereinigten Staaten erlaubt, wo er wahrscheinlich zu bis zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt wird: Er wird seine Familie und seine Anwälte nicht mehr sehen können, in der Praxis wird er lebendig begraben werden. Ein Kollege von euch, der lebendig begraben wird, weil er seine Arbeit als Enthüllungsjournalist getan hat: beunruhigt euch dieser Gedanke nicht irgendwie?

Es ist höchste Zeit, dass ihr euch für Julian einsetzt und seine Freilassung fordert. Das sind wir uns schuldig, alle Bürger:innen von heute und morgen, denn wenn Julian Assange ausgeliefert wird oder vorher im Gefängnis stirbt, ist das auch der Tod der Informationsfreiheit, der Tod unseres #Rechts zu wissen, was diejenigen, die uns regieren, wirklich getan haben, um sie zur Rechenschaft ziehen zu können.

Ein letztes Wort. Wenn Julian nicht freigelassen wird, werden auch wir nicht frei sein. Wenn euch morgen ein Whistleblower geheime Informationen gibt, die Kriegsverbrechen eines NATO-Landes aufdecken, werdet ihr sie in Erinnerung an Julian höchstwahrscheinlich durch den Schredder jagen und mögliche Verbrecher ungestraft davonkommen lassen. Mit einem Wort, ihr werdet euch gezwungen fühlen, ein Leben der Komplizenschaft zu führen.

Es geht also auch um EUCH und EURE Freiheit als Journalist, wenn wir euch bitten, aktiv für die Freilassung von Julian Assange einzutreten.

FREE ASSANGE Italien
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Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Anita Köbler vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!