Die Türkei sucht die Zustimmung des Westens zu ihrer nächsten Invasion in Syrien zu erhalten. Sie hat längst weite Teile Nordsyriens okkupiert und im Nordirak Militär stationiert.
Vertreter der nordsyrischen Kurden appellieren an die westlichen Mächte, darunter Deutschland, eine erneute türkische Invasion in Syrien zu unterbinden. Bislang habe – anders als im Fall der russischen Invasion in die Ukraine – niemand der Türkei mit „Konsequenzen“, insbesondere „mit Sanktionen gedroht“, moniert der Kommandeur der kurdisch-arabischen Syrian Democratic Forces (SDF). Dies müsse sich ändern. Tatsächlich hat Ankara nicht nur weite Gebiete Nordsyriens okkupiert und bereitet zur Zeit die Besetzung weiterer Landesteile vor. Es hat darüber hinaus Militärstützpunkte im Nordirak errichtet, dort mehrere Tausend Soldaten stationiert und mit dem Bau von Straßen zwischen seinen Armeebasen begonnen, um das Territorium zu kontrollieren sowie die Bewegungsfreiheit der PKK rings um ihre nordirakischen Camps zu reduzieren. Der NATO-Partner hat im April neue Militäroperationen im Irak gestartet und eine neue Invasion in Syrien angekündigt. Er ist bestrebt, die geplante NATO-Norderweiterung als Hebel zu nutzen, um eine Zustimmung der westlichen Mächte durchzusetzen. Die Chancen stehen gut.
Die „Türkisierung“ Nordsyriens
Schon vor Jahren hat die Türkei begonnen, Teile Nordsyriens zu okkupieren und die von ihr besetzten Gebiete stets weiter auszudehnen. Abgesehen davon, dass Ankara starken Einfluss in der Region rings um Idlib südwestlich von Aleppo besitzt, die von Jihadisten kontrolliert wird, hat es im Sommer 2016 in einer groß angelegten Militäroperation („Euphrates Shield“) die Region rings um Al Bab nordöstlich von Aleppo eingenommen. Anfang 2018 folgte die Okkupation der bis dahin kurdisch dominierten Region um Afrin („Olive Branch“), bei der es zur gewaltsamen Vertreibung von weit über 150.000 kurdischsprachigen Syrern kam. Im Herbst 2019 besetzten die türkischen Streitkräfte einen umfangreichen Landstreifen zwischen den syrischen Grenzorten Tall Abyad und Ras al Ayn. Die Territorien, die sie kontrollieren, hat die Regierung in Ankara türkischen Behörden unterstellt – denjenigen, die die Gebiete auf der türkischen Seite der Grenze verwalten. Sie hat darüber hinaus die türkische Lira als neue Währung eingeführt sowie muslimische Einrichtungen der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstellt. Beobachter sprachen schon vor Jahren von einer gezielten Kampagne zur „Türkisierung“ Nordsyriens (german-foreign-policy.com berichtete [1]).
Die militärische Kontrolle des Nordirak
Anders als in Nordsyrien hat die Türkei im Nordirak, wo sie Operationen gegen die PKK durchführt, zwar nicht ganze Regionen okkupiert. Sie ist allerdings, wie die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Untersuchung berichtet, um 2019 von den begrenzten Luftangriffen und Bodenoffensiven, die sie bereits seit den 1990er Jahren unternimmt, zu einer Strategie militärischer Kontrolle übergegangen. Dazu hat sie zahlreiche Armeestützpunkte und vorgeschobene Basen errichtet, in denen auf irakischem Territorium entlang der nordirakisch-türkischen Grenze laut Schätzung der SWP zwischen 5.000 und 10.000 Soldaten stationiert sind. Um ihre Armeestützpunkte miteinander zu verbinden, haben die türkischen Streitkräfte mittlerweile begonnen, auf irakischem Territorium Straßen zu bauen; das soll zudem „eine effizientere Gebietskontrolle ermöglichen“, schreibt die SWP.[2] Insbesondere gehe es darum, der PKK die Bewegungsfreiheit zu nehmen und ihre Kontakte zur syrisch-kurdischen PYD und deren bewaffnetem Arm, den YPG, zu unterbinden. Die türkischen Streitkräfte haben dabei – wegen seiner hohen Bedeutung als Transitregion – nicht zuletzt das auch von Jesiden besiedelte Gebiet um Sinjar/Şengal im Visier.
Den Grenzstreifen im Visier
Haben die türkischen Streitkräfte am 18. April eine neue Serie militärischer Operationen im Nordirak begonnen (german-foreign-policy.com berichtete [3]), so hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am 23. Mai die nächste Invasion in Nordsyrien in Aussicht gestellt. Wie es heißt, zielt sie vor allem auf die Gebiete um Manbij westlich des Euphrat und um Tall Rifaat nördlich von Aleppo; sie soll den rund 30 Kilometer breiten Grenzstreifen, den Ankara bereits seit Jahren zu okkupieren wünscht, arrondieren. Erdoğan geht es insbesondere darum, die PYD bzw. die YPG – ganz wie die PKK im Irak – in größerem Abstand von der Grenze zu halten und darüber hinaus Platz für syrische Flüchtlinge zu schaffen, die aus der Türkei abgeschoben werden sollen. Noch laviert die türkische Regierung. Einerseits benötigt sie die zumindest stillschweigende Einwilligung Russlands, das militärisch weiterhin in Syrien präsent ist und zuletzt Militärjets und Kampfhubschrauber nach Qamishli weit im Nordosten des Landes verlegt hat. Qamishli liegt in kurdisch dominiertem Gebiet, wird allerdings von den syrischen Regierungstruppen kontrolliert.[4] Andererseits wäre es für die Türkei sehr vorteilhaft, eine Einigung mit den USA über die Invasionspläne zu erzielen, da diese im Kampf gegen den IS mit den YPG kooperieren und zumindest verbal Einwände gegen einen Angriff auf ihren Verbündeten erheben.
„Legitime Bedenken“
Einen Hebel, um die Zustimmung der USA und der anderen westlichen Staaten zu erreichen, bietet die geplante NATO-Norderweiterung. Präsident Erdoğan hat klargestellt, dass er, im Gegenzug zu einer etwaigen türkischen Zustimmung zum Beitritt Finnlands und Schwedens, Zugeständnisse für seinen Kampf gegen kurdische Organisationen verlangt. Im Gespräch sind bislang unter anderem Abschiebungen kurdischer Aktivisten vor allem aus Schweden, aber auch neue Repressalien gegen die PKK und ihr tatsächlich oder angeblich nahestehende Kurden in anderen NATO-Mitgliedstaaten. Längst wird spekuliert, auch die Bereitschaft in der NATO, keinerlei Einwände gegen eine erneute türkische Invasion in Nordsyrien zu erheben, könne Teil einer Lösung sein. Am Sonntag bekräftigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Aufenthalt in der finnischen Hauptstadt Helsinki, die Türkei habe als Bedingung für ihre Einwilligung in die NATO-Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens „legitime Bedenken“ vorgebracht: „Wir müssen uns in Erinnerung rufen und verstehen, dass kein NATO-Verbündeter mehr Terrorangriffe erlitten hat als die Türkei.“[5] Was der Militärpakt der Türkei im Detail zubilligen will, ist noch nicht bekannt.
Doppelte Standards
In dieser Situation appellieren die nordsyrischen Kurden an die westlichen Mächte, der türkischen Regierung kein grünes Licht für ihre Militäroperation zu geben. Einerseits heißt es, die YPG bzw. die Syrian Democratic Forces (SDF), eine gemischte kurdisch-arabische Streitmacht, die um die YPG herum gebildet wurde, hätten begonnen, sich zur Abwehr der angekündigten türkischen Invasion mit dem syrischen Militär zu koordinieren. So könne „die syrische Luftabwehr … uns gegen die türkischen Drohnen helfen“, wird SDF-Kommandeur Mazloum Abdi zitiert.[6] Andererseits fordert Mazloum Abdi den Westen auf, gegen die türkischen Invasionspläne Maßnahmen zu ergreifen, die den Maßnahmen gegen die russische Invasion in die Ukraine gleichen: „Niemand hat der Türkei klargemacht, was die Konsequenzen eines neuen Angriffs wären, oder mit Sanktionen gedroht“, moniert der SDF-Kommandeur. In der Tat ist zwar kein Unterschied zwischen der türkischen Invasion in Syrien und der russischen Invasion in die Ukraine erkennbar; doch ist Russland ein zentraler Rivale der westlichen Mächte, während die Türkei ein NATO-Partner und darüber hinaus eine wichtige Brücke in den Nahen und Mittleren Osten und nach Zentralasien ist. Ernsthafte Maßnahmen der NATO-Staaten gegen sie kommen daher nicht in Betracht.
[1] S. dazu Die „Türkisierung“ Nordsyriens.
[2] Salim Çevik: Turkey’s Military Operations in Syria and Iraq. SWP Comment No. 37. Berlin, May 2022.
[3] S. dazu Die ignorierte Invasion (II).
[4] Volker Pabst: Erdogan plant eine neue Offensive in Syrien. Neue Zürcher Zeitung 08.06.2022.
[5] Joshua Posaner: NATO’s Stoltenberg: Turkey needs to be heard on Sweden, Finland concerns. politico.eu 12.06.2022.
[6] Christoph Ehrhardt: Stachel in Erdogans Fleisch. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.06.2022.