Nach Angaben des kürzlich veröffentlichten „Konfliktbarometers 2020“ des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) ist die Zahl der Kriege in den zurückliegenden Jahren weltweit von fünfzehn auf zweiundzwanzig angestiegen. Der neueste Krieg wird zurzeit in der Ukraine ausgetragen. Er hat die Anlagen sich zu einem Weltbrand auszuweiten. Warum ist das so? Warum gerade die Ukraine? Gibt es keine Alternative?

Machen wir einen Versuch, dieses Rätsel zu verstehen und einen möglichen Weg aus der bloßen Zerstörung zu skizzieren, einen möglichen Weg wenigstens erst einmal zu denken. Versuchen wir uns von dem vordergründigen medialen Getöse erklärter Kriegsziele der Hauptkontrahenten, wie auch ihrer medialen Mitläufer und der Kriegsgewinnler aller Art zu lösen.

Lange Linien globaler Konflikte…

Schauen wir dafür zunächst auf die langen Linien, auf die tiefer liegenden globalen Wurzeln, die zu diesem Krieg geführt haben, um besser verstehen zu können, worum es geht.

Drei Hauptstränge werden erkennbar – schon lange bevor der Krieg in der Ukraine begann, also schon vor dem Überschreiten der ukrainischen Grenzen durch russische Truppen am 24. Februar des Jahres 2022 und auch noch vor dem Beginn des innerukrainischen Krieges, der dem Maidan nach 2014 folgte. Diese Hauptstränge ziehen sich über den ganzen Globus hin.

  • Das ist die nachsowjetische geistige Leere, deren Sog immer noch wirksam ist in der verzweifelten Suche der Menschen nach neuen Identitäten und neuen Perspektiven angesichts der unübersehbaren Tatsache, dass der Kapitalismus diese Leere nicht füllen kann.
  • Das ist die Krise des einheitlichen Nationalstaats und der auf diesem Credo beruhenden internationalen Ordnung, die zunehmend von Monopolen dominiert wird, während gleichzeitig eine nachholende Nationenbildung wuchert.
  • Das ist das Heraufkommen autoritärer Formen des digitalen Kapitalismus, dem das Anwachsen eines Prekariats gegenübersteht, das auf Basis technisch möglicher Dezentralisierung nach neuen Formen der Teilhabe verlangt.

…treffen in der Ukraine aufeinander

Diese drei Stränge treffen in der Ukraine, in diesem historisch von der mythischen Zeit der Argonauten und Amazonen bis heute immer wieder von verschiedenen Völkern und Kulturen durchzogenen Durchgangsraum zwischen Asien und Europa, zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen imperialer und multipolarer Ordnung, allgemeiner gesagt, zwischen Osten und Westen, zwischen dem eurasischen Norden und dem mittelmeerischen Süden zurzeit am schroffsten aufeinander:

Die oligarchische Ausplünderung des von Natur aus fruchtbaren Gebietes der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion hinterließ die dortige Bevölkerung als eine der ärmsten im europäischen Raum, zwar ausgerüstet mit Handys für den Tagesgebrauch, aber alleingelassen mit ihren Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Erlösung durch den Westen. Ein nachsowjetisches und zugleich nahezu frühkapitalistisches Prekariat sucht nach neuen Lebensperspektiven.

Im Tauziehen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen um die Orientierung des Landes zwischen Russland und der EU und um die Herausbildung einer eigenen nationalen Identität, die sich der Willkür der heimischen Oligarchen wie zugleich Eingriffen von außen widersetzen könnte, haben die oben genannten Stränge sich in der Ukraine zu einem nationalistischen Knoten verdichtet, der die vielfältige Kultur des Landes zu erwürgen droht.

Dem Charakter der Ukraine als Durchgangsraum zwischen Asien und Europa entspräche es aber eher, und zukunftsweisender wäre es, wenn das Land nicht in die Wahl zwischen Russland oder Europa, auch nicht in Scheinalternativen von einheitlichem Nationalstaat westlicher Prägung oder anarchischem Chaos, guter westlicher Zivilisation oder böser russischer Barbarei getrieben würde, sondern wenn sich ihre Bevölkerung auf Basis ihrer kulturellen wie sprachlichen Vielgestaltigkeit selbstbestimmter Gemeinden und Regionen als föderale Gemeinschaft in eigenen autonomen Formen, konstituieren könnte.

Das eigentliche Erbe der Ukraine…

 Denn darin liegt das eigentliche Erbe, auf das die in der Ukraine lebende Bevölkerung aus ihrer langen Geschichte pluraler Selbstorganisation zurückgreifen könnte. Nicht formale Demokratie nach westlichem Muster, nicht Unterordnung unter ein dominantes Moskauer Erbe, nicht zwangsweise Uniformierung der Menschen zu Ukrainern in einem einheitlichen Nationalstaat entspricht diesem Erbe. Man erinnere sich nur an die reiche Kultur der selbstbewussten Kosaken im 17. Und 18. Jahrhundert, eine stolze Kriegerkultur, die sich die Herren, denen sie diente, jeweils selbst wählte, man erinnere sich an die lebendige rätedemokratische Bewegung vor und während der russischen Revolution, für die der Name Nestor Machnos steht – eine Kultur der rätedemokratischen Selbstorganisation.

Und wichtig ist schließlich auch, sich die zarten Ansätze zur kommunalen Selbstorganisation ins Gedächtnis zu rufen, die nach dem Maidan im Osten des Landes als anzustrebende Alternative zur Fortsetzung der Herrschaft der Oligarchen wie auch einer drohenden Militarisierung des Landes formuliert wurden. Für die Proklamation dieser Absichten kamen im Juli 2014 Vertreter aus den verschiedensten Orten des Ostens wie auch aus dem Kiewer Teil des Landes zu einer Gründerkonferenz zusammen, an der der Autor dieser Zeilen teilnehmen konnte (1).

immer wieder gebrochen

Keiner dieser Ansätze hat sich auf Dauer halten können. Das ist eine ebenso wichtige Konstante dieses Raums wie der unbändige Freiheitswille der gemischten Bevölkerung dieses Stückes Erde. Nicht immer blieb das Zusammenleben der ethnischen und kulturellen Gruppen friedlich, auch das muss gesagt werden, immer wieder kam es auch zu Pogromen, immer wieder auch zu Gewaltausbrüchen wie gegenwärtig wieder. Und immer wieder wurden die Ansätze autonomer Selbstorganisation unter fremde Herrschaft gezwungen, unter russische, polnisch-litauische, türkische, habsburgische, deutsche; heute kommen US-amerikanische und britische Einflussnahmen hinzu. Zuletzt waren es die soeben genannten zarten Impulse nach dem Maidan 2014, die von der einsetzenden Militarisierung des Konfliktes zwischen Kiew und den östlichen Republiken verdrängt wurden. Weder die westorientierten Kräfte, die Kiew nach dem Maidan übernommen hatten, noch Russland waren an einer Entwicklung autonomer Strukturen in der Ukraine interessiert. Im Gegenteil. Diese Initiative starb zwischen den Fronten des Bürgerkrieges, bevor sie sich entwickeln konnte.

Was blieb, ist ein zerrissenes Land, das nur noch entfernt an die Impulse der Selbstverwaltung und den traditionellen Freiheitswillen der Bewohner erinnert – in den abgespaltenen Provinzen nicht viel anders als im Kiewer Teil des Landes: Unter ausländischer Dominanz, hier östlicher, dort westlicher, stehen sie heute beide. Wie das Land aus dem Ende des Krieges hervorgehen wird, ist offen.

Die Zukunft offen

Ein vorurteilsloser Blick auf die Geschichte des ukrainischen Landes lässt aber erkennen, dass die immer wieder zum Durchbruch kommende Tendenz zu herrschaftsfreier, zumindest herrschaftskritischer, rätedemokratisch orientierter Selbstverwaltung autonomer Regionen die ureigentlichen Kräfte dieses Landes in seiner extrem unruhigen und reichen Geschichte repräsentiert. Sie sind durch den über Jahrhunderte erfolgten Durchzug der Völker in der immer wieder durchmischten Kultur des Gebietes und in der Mentalität, der in dem Gebiet der Ukraine lebenden Bevölkerung tief verankert, auch wenn jetzt wieder Kompromisse im russischen oder westlichen Staatsverband gesucht werden müssen.

Wenn die in der Ukraine lebenden Menschen jetzt, wie es vor den Augen der Welt geschieht, als Kanonenfutter im Stellvertreterkrieg zwischen westlichen und russischen Interessen an diesem Gebiet, gewissermaßen als Kollateralschaden der globalen Transformation, unter der Vorgabe verheizt werden, dort werde die Freiheit verteidigt oder von der Gegenseite her, dort werde der Faschismus zurückgekämpft, liegt darin eine doppelte Tragik. Zum einen verlieren die zu Helden erklärten „Kämpfer“ unter dem Druck der nachholenden Nationalisierung ihr Blut für eine Idee von Staat, die eindeutig nicht ihrem historischen Grundimpuls entspricht. Das gilt für beide Seiten der Front. Zum anderen geht der Welt die Chance verloren, die Entwicklung einer Alternative zu erleben und zu fördern, die ihrem Wesen nach über die gegenwärtige globale Transformationskrise in eine Zukunft hinausweist, in der die Leere des gescheiterten Sozialismus wie auch des darauf als angebliche Alternative folgenden entfesseltem Kapitalismus, durch kooperative Formen des Lebens und Wirtschaftens überwunden werden könnte.

Nur Utopie oder Perspektive?

Ist das das nur eine Utopie? Nein, das ist keine Utopie. Das ist eine Perspektive, die in eine Richtung weist, wie die allgemeinen Entwicklungshemmungen der gegenwärtigen globalen Gesellschaft, die in der Ukraine gegenwärtig zu einem Knoten zusammenlaufen, überwunden werden könnten, statt verbrannte Erde und Rückkehr zum Nationalismus zu hinterlassen, worauf für Jahrzehnte nur Minen statt Korn geerntet werden können.

Mit solch einer Entwicklung könnte die Ukraine nicht nur in die Kontinuität ihrer eigenen Geschichte, sondern auch in die von Gemeinschaften wie Rojava, in Nordsyrien eintreten, die in klarer Kritik des einheitlichen Nationalstaats die Verfassung eines demokratischen Konföderalismus anstreben.

Solche Initiativen zu denken und zu fördern, wäre mit Sicherheit die bessere Hilfe für die Menschen der Ukraine, als das Land mit Waffen aller Art vollzupumpen.


(1) „Manifest der Volksbefreiungsfront der Ukraine, Neurusslands und der russischen Karpaten vom 10.Juli 2014“ https://kai-ehlers.de/2014/07/blick-in-den-hintergrund-manifest-der-volksbefreiungsfront-zu-den-zielen-des-widerstandes-im-sueden-und-osten-der-ukraine/

Der Originalartikel kann hier besucht werden