ZUSAMMENFASSUNG
- UN-Sicherheitsrat muss Mechanismus für grenzüberschreitende humanitäre Hilfslieferungen nach Nordwestsyrien verlängern, bevor er am 10. Juli ausläuft
- Mindestens 4 Millionen Menschen, darunter etwa 1,7 Millionen Binnenvertriebene, im Nordwesten Syriens sind vollständig von den Hilfslieferungen abhängig
- Neuer Amnesty-Bericht dokumentiert beklagenswerte Lebensbedingungen in Lagern für Binnenvertriebene, die durch bevorstehende Einstellung der Hilfslieferungen massiv gefährdet sind
In einem neuen Bericht mit dem Titel ‘Unbearable living conditions’: Inadequate access to economic and social rights in displacement camps in north-west Syria dokumentiert Amnesty International, dass Binnenvertriebene, die unter schlechten Bedingungen in Lagern leben, für ihr Überleben gänzlich von internationalen Hilfslieferungen abhängig sind, da die syrische Regierung ihren Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten einschränkt oder ganz verweigert.
Etwa 1,7 Millionen Menschen, 58% davon Minderjährige, leben derzeit in Lagern in Nordwest-Syrien und haben keine Aussicht auf eine dauerhafte Lösung. Die meisten von ihnen sind seit Jahren in Zelten untergebracht und haben kaum oder keinen Zugang zu fließendem Wasser und Sanitäreinrichtungen, was die Gefahr wasserbezogener Krankheiten birgt. In den Lagern herrschen elende Bedingungen und die Bewohner*innen sind für ihr Überleben gänzlich von humanitären Hilfslieferungen abhängig.
„Viele dieser vertriebenen Frauen, Männer und Kinder leben seit mehr als sechs Jahren in Nordwest-Syrien in absoluter Not. Es besteht wenig Aussicht darauf, dass sie nach Hause zurückkehren können, da die syrischen Behörden im Land weiterhin Menschenrechtsverletzungen begehen. Doch wenn sie bleiben, wo sie sind, müssen sie unter harten Bedingungen leben und riskieren Krankheiten und geschlechtsspezifische Gewalt.“
Diana Semaan, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International
„Seit die syrischen Behörden die Kontrolle über den Nordwesten des Landes verloren haben, haben sie den Strom und das Wasser abgestellt, Hilfslieferungen behindert und Lager, medizinische Einrichtungen und Schulen angegriffen. Damit liegt es an humanitären Organisationen, diese Dienste bereitzustellen. Die einzige wirksame Lösung für das Bereitstellen angemessener humanitärer Hilfe in Nordwest-Syrien ist die Verlängerung des bestehenden Mechanismus für Cross-Border-Hilfe. Der UN-Sicherheitsrat muss das Mandat des Mechanismus daher vor seinem Auslaufen am 10. Juli dringend verlängern.“
Amnesty International führte im Februar und März 2022 Recherchetätigkeiten für den neuen Bericht durch, der aufzeigt, dass den Menschen in den Lagern – vor allem in Idlib – ihre Rechte auf angemessenem Wohnraum, Gesundheit, Wasser und Sanitäreinrichtungen vorenthalten werden. Amnesty sprach mit insgesamt 45 Personen, u. a. mit Mitarbeiter*innen von Hilfs- und Gesundheitsorganisationen sowie mit Binnenvertriebenen aus der Gegend.
UNANGEMESSENE UNTERBRINGUNG, NICHT GENUG WASSER
Mehr als die Hälfte aller Binnenvertriebenen in Nordwest-Syrien lebt in einem von 1.414 Lagern, in der Regel in 1-Kammer-Zelten ohne solide Türen oder Schlösser, die keinen Schutz vor der extremen Kälte und Hitze bieten. Dies verstößt gegen das völkerrechtlich verbriefte Recht der Bewohner*innen auf menschenwürdigen Wohnraum. Wasser steht für die Binnenvertriebenen zumeist in gemeinschaftlichen Wassertanks bereit, doch die ihnen zugeteilte Menge ist nicht einmal die Hälfte dessen, was sie eigentlich benötigen. Nur 40% der Binnenvertriebenen haben Zugang zu funktionstüchtigen Latrinen.
Die Lagerbewohner*innen sagten Amnesty International, dass sie im Winter Schwierigkeiten haben, sich warm zu halten, ihr Zelt und ihre Habseligkeiten trocken zu halten und ihre alltäglichen Aufgaben (wie z. B. Wasser holen und zur Toilette gehen) zu verrichten, da sie durch heftige Regenfälle, Überschwemmungen und schlammige Wege behindert werden. Darüber hinaus verbrennen sie im Winter häufig Plastik, Holz oder anderes brennbares Material in den Zelten, um sich warm zu halten. Seit Anfang 2022 kam es hierdurch bereits zu mindestens 68 Bränden.
GESCHLECHTSSPEZIFISCHE GEWALT
Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen gaben im Gespräch mit Amnesty International an, dass Frauen und Mädchen geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, unter anderem durch Familienmitglieder, Lagerbewohner und -verwalter, unbekannte Personen sowie Angehörige von Hilfsorganisationen. Dieses Risiko wird durch Überfüllung, mangelnde Privatsphäre, nicht eingezäunte Lager, nicht abschließbare Zelte und die Ausgrenzung von Frauen und Mädchen aus Entscheidungsprozessen noch verstärkt.
So erhöhen beispielsweise die Art und Lage der Gemeinschaftslatrinen und -duschen die Gefahr von geschlechtsspezifischer Gewalt, da diese Einrichtungen in den allermeisten Lagern ohne Konsultation mit den Frauen eingerichtet wurden. Schlechte Beleuchtung, nicht abschließbare Türen sowie Toiletten, die an abgelegenen Orten und ohne Geschlechtertrennung errichtet wurden, verschärfen das Problem noch zusätzlich.