In Ecuador gingen in einem landesweiten Streik 18 Tage lang überall Menschen auf die Straßen. Mit Straßenblockaden und Demos legten sie bis zum 30. Juni große Teile des Landes lahm. Sie riefen: „Mindestlohn dem Präsidenten, damit er merkt, wie sich das anfühlt!“ Dabei kann man in Ecuador von Glück reden, wenn man den Mindestlohn von monatlich 425 Dollar verdient. Laut Zahlen des nationalen Statistikinstituts haben nämlich nur drei von zehn Ecuadorianer*innen eine sogenannte würdige Arbeit, verdienen also den Mindestlohn oder mehr. Die monatlichen Lebenshaltungskosten für eine vierköpfige Familie übersteigen diesen Mindestlohn aktuell um über die Hälfte.
Zu den landesweiten Streiks hatten verschiedene indigene Organisationen aufgerufen, darunter der indigene Dachverband CONAIE. Schnell haben sich aber viele andere Sektoren angeschlossen, etwa Studierende, Lehrer*innen und Hausfrauen, wie die Soziologieprofessorin Ana Cecilia Salazar auf einer Demo am 16. Juni in Cuenca in Südecuador erzählt. Es seien wirtschaftliche Maßnahmen erforderlich, um die Leute in der schwierigen Lage nach der Pandemie zu unterstützen.
Aktuelle Regierung setzt Sparkurs auch in der Pandemie fort
Indigene, Bäuer*innen, Arbeiter*innen und Frauen sind besonders vom neoliberalen Sparkurs betroffen – eine Antwort auf die Wirtschaftskrise, in der sich Ecuador seit 2018 befindet. Viele werfen Rafael Correa, der bis 2017 Präsident Ecuadors war, vor, die Wirtschaft zu sehr vom Rohöl abhängig gemacht und so den Weg zur Krise geebnet zu haben. Andere hingegen kritisieren schärfer die neoliberale Kehrtwende der Nachfolgeregierung unter Lenín Moreno, die sich unter dem aktuellen Präsidenten Guillermo Lasso fortsetzt. Beide Regierungen setzten, im Gegensatz zu Correa, auf Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds und nahmen massive Kürzungen der Sozialausgaben vor.
Eine Recherche des Community-Mediums Wambra belegt, dass zwischen 2019 und 2020 die Staatsausgaben für Bildung und Gesundheit drastisch gesunken, die für Militär jedoch gestiegen sind. Auf den Streikdemos in Cuenca empörten sich Studierende und Dozierende über das schrumpfende Budget für öffentliche Universitäten. Auch in Ecuador ist es strukturell so, dass in Bildung und Gesundheit hauptsächlich Frauen arbeiten. Diese sind also überproportional vom Sozialabbau betroffen. Guadalupe Zhingri, Kichwa-Indigene und Lehrerin in den südlichen Anden Ecuadors, berichtet, dass die Lehrer*innengehälter seit 14 Jahren nicht erhöht worden seien. Grundausstattung wie Materialien für den Kunstunterricht, Glühbirnen, Transport und technische Geräte müssten sie aus eigener Tasche zahlen, ohne dass die Regierung dies anerkenne.
Neue Gesetze sorgen für weitere Prekarisierung von Arbeitsbedingungen
Und dann kam 2020 die Covid-19-Pandemie. Es ist kein Geheimnis, dass sie Volkswirtschaften auf der ganzen Welt vor Herausforderungen stellte. In Ecuador traf sie jedoch auf ein Land in der Krise, in dem die neoliberale Strukturanpassung bereits in Gang war. Eine Maßnahme war etwa das sogenannte Gesetz zur humanitären Unterstützung. Im Grunde handelt es sich um ein Flexibilisierungsgesetz, das Arbeitsbedingungen prekarisiert hat. Es erlaubt zum Beispiel fristlose Kündigungen aufgrund „höherer Gewalt“. In einem Bericht von September 2021 ließ die Regierung verlauten, dass von März bis Dezember 2020 umgerechnet über eine halbe Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen sind und über eine Millionen Menschen in dem 17-Millionen-Einwohner*innen-Land in extreme Armut gerutscht sind.
Das Medium Wambra hat die offiziellen Zahlen zum Arbeitsmarkt unter Coronabedingungen auf die unterschiedliche Betroffenheit von Männern und Frauen analysiert. Es schlüsselte auf, dass zwar etwa doppelt so viele Männer wie Frauen ihren Job verloren haben, aber nur registrierte Arbeiter*innen in diese Statistik einfließen. Die Mehrzahl der Frauen arbeitet hingegen im informellen Bereich: als Straßenverkäufer*innen, Haushälter*innen, Mülltrenner*innen, Sexarbeiter*innen. Die Arbeitsbedingungen der informell Arbeitenden waren massiv von der Pandemie betroffen, aber sie tauchen oft nicht in den Statistiken auf. Und während sich laut nationalem Statistikinstitut die Arbeitslosenrate inzwischen wieder auf einem Niveau wie vor der Pandemie eingependelt hat, sind heute 4,6 Prozent mehr Frauen unterbeschäftigt und verdienen im Durchschnitt etwa 50 Dollar weniger pro Monat. Der Internationale Währungsfonds zeigt sich zufrieden mit der wirtschaftlichen Entwicklung Ecuadors. Nicht zufrieden sind hingegen die indigenen Verbände.
Die Protestierenden haben klare Forderungen
Die CONAIE und andere Organisationen legten daher zu Beginn der landesweiten Streiks einen Katalog mit zehn Forderungen vor. Sie bezogen sich auf die Senkung von Lebenshaltungskosten, Absicherung von Kleinbäuer*innen und mittelständischen Produzent*innen, das Verbot von Rohstoffausbeutung in indigenen Territorien und Naturschutzgebieten sowie die Wahrung indigener Rechte. Während des fast dreiwöchigen Streiks warfen sich die indigenen Verbände und die Regierung gegenseitig mangelnde Bereitschaft zum Dialog vor. Die Vorschläge, die Präsident Guillermo Lasso zwischendurch machte, wurden von der CONAIE als ambitionslos zurückgewiesen.
Zugleich wurden die Massenproteste vor allem in den Provinzen des Andenhochlands und Amazonasgebiets kriminalisiert und mit polizeilicher Repression unterdrückt. Eine Allianz verschiedener Menschenrechtsorganisationen zählt dutzende Menschenrechtsverletzungen. Über 300 Menschen wurden verletzt, fünf Protestierende und ein Soldat kamen ums Leben. Es ist eine bittere Bilanz, die nach 18 Streiktagen bleibt. Die schließlich erzielten Ergebnisse der Verhandlungen werden kontrovers besprochen. Die einen feiern sie als Sieg, für andere bleiben sie hinter den Erwartungen zurück. Unter anderem wurde eine leichte Herabsenkung des Spritpreises, der Erlass von Schulden in geringer Höhe sowie der Schutz indigener und Naturschutzgebiete vor Rohstoffausbeutung vereinbart. Anfang Oktober 2022 soll die Umsetzung der Vereinbarung evaluiert werden. Sei die nicht zufriedenstellend, werde man erneut auf die Straßen gehen, kündigten die Indigenenverbände an.
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