Alles ist ein ein ewiges Erstehen und Vergehen. Nichts ist, gerade in Zeiten wie unseren, die geprägt sind von Klimakrise, Ukraine-Krieg, Pandemien und Bedrohungen unserer Zivilgesellschaften, deutlicher zu sehen, als das eben nix fix ist, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen. Konservatives Denken, also im besten Fall als „bewahrendes“ Denken ausgelegt, wird meist leider nur als für einen geringeren Teil der Menschheit sinnvoll, weil es nur das bewahren will, was ein paar wenige zu privilegierten Lebenssituationen verholfen hat und deshalb als für diese bewahrenswert gilt.
Das Diktum des stetigen Wachstums, das allen Menschen dieses Planeten Wohlstand bescheren sollte, ist gründlich nach hinten losgegangen. Hat doch dieses Wachstum viele Menschen in Lohnsklaverei getrieben und unseren doch so perfekt für uns ausbalancierten Planeten arg ins Straucheln gebracht. So sehr sogar, dass die Klimakrise nicht mehr nur als Damoklesschwert über uns hängt, sondern wir mittendrin stecken, wie uns vor circa 30 Jahren bereits von Wissenschaftlern prophezeit wurde – und aus heutiger Sicht sogar recht genau. Das Leben lehrt uns, wenn wir genau hinsehen, dass weder irgendwelche „Märkte“ etwas regeln, noch dass Wachstum oder Wohlstand immer ein materieller sein muss oder darf. Es gibt Verluste, wie zum Bespiel die schrumpfende Artenvielfalt, die wir nie mehr rückgängig machen können. Und dann tauchen plötzlich Tiere oder Pflanzen wieder auf, die längst als ausgestorben galten. Wie gut wäre es, gäbe es eine universelle Aufzeichnung, die uns diese Verluste und Gewinne aufzeigen könnte. Judith Schalansky hat sich vor einiger Zeit schon an ein solches Projekt gewagt, das zwar nicht universell, sondern subjektiv von ihr ausgewählt, einige dieser Verluste und Zugewinne zugänglich macht und für mich eines der eindruckvollsten Bücher ist, das ich in den letzten Jahren in die Finger bekam.
„Am Leben sein, bedeutet Verluste zu erfahren“
Im Grunde ist es ein ganz menschliches Thema, dessen sich Schalansky über verschiedene Wege nähert: Was wäre schlimmer, wenn alles ein absolutes Ende hätte oder wenn es dieses Ende gar nicht gäbe? Ein Buch, das mir beim ersten Hören der von Bettina Hoppe und Wolfram Koch meisterhaft eingelesenen Texte, sofort in den Kopf kam, war Simone de Beauvoirs „Alle Menschen sind sterblich“, das mir erstaunlicherweise bis heute den größten Trost in Bezug auf die Endlichkeit meines und aller anderen Leben bescherte, weil es mir zeigte, dass seine Unendlichkeit nur dann erstrebenswert wäre, wenn ich diese nicht alleine verbringen müsste. Die Vergänglichkeit macht doch das Leben erst so einzigartig. Das macht auch Schalansky in ihrer Vorbemerkung zu den folgenden 12 Miniaturen (die im Buch immer genau 18 Seiten umfangen) klar. Dabei wird deutlich, wie gut sie Verbindungen finden kann und wie belesen sie ist.
„Geschichte als nachträgliche Sinngebung des Sinnlosen“
Was in unserer Geschichte als erinnernswert bestehen bleibt, was wir als „gezielte“ Entwicklung bewahren wollen, gibt es nicht. Die Menschheit sieht sich allzu gerne als vernünftig und planvoll vorgehend an. Doch die Geschehnisse der Vergangenheit zeigen nur allzu deutlich, dass wir überhaupt keinen Plan hatten und haben. Die Welt ist zu komplex, als dass wir sie durchweg zielgerichtet durchschreiten können. Zufall und Anpassung sind es, die unseren Weg zeichnen. Wer die Marvel Serie „Loki“ gesehen hat, weiß was ich meine – ein tatsächlich geradliniger Zeitstrahl ist aufgrund der Vielfalt an Leben auf diesem Planeten nicht real. Jegliches Handeln unsererseits bedingt eine Ausprägung, die durch ein anderes Handeln eine andere Ausprägung bedingen würde. Kein Wunder, dass wir Menschen immer ein System benötigen, in dem wir uns verorten können, damit wir nicht durchknallen, inklusive religiöser Konzepte. Homo sapiens – zur Vernunft begabt, aber vernünftig? Schalansky macht klar, sogar der Versuch, Zeitkapseln zu hinterlassen, aus denen andere Spezies von uns Kenntnis erhalten sollen, ist im Grunde egozentrisch gedacht und entspringt dem unreifen Wunsch, die eigene Bedeutungslosigkeit nicht hinnehmen zu wollen. Was wir tatsächlich hinterlassen ist: Atommüll, Plastik und Elektroschrott. Im Grunde also nur den Planeten belastendes.
Vom Suchen und Finden und der Kraft der Erinnerung
Und so hat Schalansky ihr ganz eigenes Archiv geschaffen, indem sie ausgewählt hat, wovon sie uns erzählt, was sie im Buch auch illustratorisch sichtbar macht und auf welche Spur sie uns schickt, um uns vielleicht weiter einzulesen beziehungsweise einzuhören. Sie beginnt mit den Inseln, die es vielleicht einmal gegeben haben mag – sonst hätte sie niemand auf einer Karte verewigt – und die heute nicht mehr existieren oder (wieder) neu auftauchen. Ein optimaler Einstieg, um zu zeigen, dass die einzige wahre Konstante die Veränderung ist.
Schalanskys Auswahl ist beeindruckend breit – da findet sich der kaspische Tiger, neben der Insel Tuanaki, dem Hafen von Greifswald, Sapphos neu entdeckten Liebesliedern oder dem Palast der Republik. Ihre Texte sind überaus poetisch und eindringlich, was weniger an der sehr genauen Sprache, als mehr an den Gedanken dahinter liegt. Die Umsetzung als Hörbuch ist so gelungen, dass sie mir quasi über Jahre hinweg im Gedächtnis blieb und mich zum wiederholten Hören animiert und mit immer wieder zeigt, wie wichtig trotz allem und wegen der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse eines ist: sich zu erinnern.
Verzeichnis einiger Verluste von Judith Schalansky ist 2018 als ungekürzte Lesung (Bettina Hoppe, Wolfram Koch) bei Der Audio Verlag erschienen. Für mehr Infos zum Hörbuch durch Doppelklick auf das im Beitrag abgebildete Cover oder direkt auf der Verlagsseite.
Rezension von Bri