Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von Tages-Anzeiger und Frankfurter Rundschau, fasst die jüngste Entwicklung zusammen.
Romeo Rey für die Online-Zeitung INFOsperber
Inmitten eines Nachrichtenpanoramas, das auf einen sukzessiven Linksrutsch in Lateinamerika hindeutet, richtet sich jetzt der Fokus auf die nächste Präsidentenwahl in Brasilien. Die erste Runde soll am 2. Oktober stattfinden und die wahrscheinlich notwendige Stichwahl am 30. Oktober. Die hinsichtlich der Bevölkerungszahl, des wirtschaftlichen Gewichts und der geografischen Ausdehnung mit Abstand grösste Nation des Subkontinents steht vor einem schicksalhaften Entscheid: Laut aktuellen Umfragewerten liegt der gemässigt linksgerichtete Ex-Präsident Lula da Silva im beginnenden Wahlkampf deutlich vor dem amtierenden Staatschef Jair Bolsonaro. Der scheint jedoch entschlossen, einen Sieg des Gegners um jeden Preis zu verhindern.
Eine unter dem Namen Civil Society Spotlight Report erschienene Untersuchung, die sich an den 17 wichtigsten Kriterien der sogenannten Agenda 2030 der UNO orientiert und durch solides Quellenmaterial unterstützt wird, stellt in Brasilien nach fast vierjähriger Herrschaft Bolsonaros einen Rückschritt in praktisch allen Bereichen fest. Zwar hat der stramm konservative amtierende Präsident im Hinblick auf die für ihn bedenklichen Umfrageresultate noch kurz vor den Wahlen ein populistisch motiviertes und kurzfristig angelegtes Sozialhilfeprogramm angekündigt. Es stellt sich jetzt die Frage, wie viele BrasilianerInnen sich in den wenigen Wochen bis zu den Wahlen durch ein solches «Geschenk» verführen lassen. Eigentlich müsste man annehmen, dass in dem riesigen Land Millionen Menschen den vielfältigen Rückschritt am eigenen Körper und vor allem im eigenen Geldbeutel zu spüren bekommen. Doch in einem Land, wo Dutzende Millionen von der Hand in den Mund leben und grossartige, wenn auch letztlich leere Versprechungen in der Regel mehr gelten als makroökonomisch tragbare und für das Gemeinwohl sinnvolle Programme, ist alles möglich.
Neben Brasilien regieren Konservative derzeit auf dem südamerikanischen Halbkontinent nur noch in Ecuador, Paraguay und Uruguay – alles Länder, die hinsichtlich ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Leichtgewichte sind. Auf der anderen Seite muss man sich fragen, wie weit es den linksgerichteten Kräften in den übrigen sechs Ländern, die ein Vielfaches auf die Waage bringen, gelingen wird, ihre Pläne zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen und Reichtum zu verwirklichen. Immer und überall wird zudem entscheidend sein, wie die jeweils gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ausfallen.
In Ecuador ist seit etwas mehr als einem Jahr der konservative Banker Guillermo Lasso, einer der reichsten Männer des Äquatorstaats, nach knapp gewonnener Wahl am Ruder. Die Ausübung der ihm anvertrauten Macht gestaltet sich für ihn jedoch schwieriger als erwartet. In wochenlangen Verhandlungen mit der Indigenen-Organisation Conaie, die von landesweiten Streiks begleitet wurden, musste er der immer massiver und selbstbewusster auftretenden Pachakutik-Bewegung der indigenen Bevölkerung Änderungen in seinen neoliberalen wirtschafts- und sozialpolitischen Plänen zugestehen. Der Einfluss dieser Indigenen-Organisation, die sich in den 1980er Jahren zu formieren begann, hat mittlerweile so weit zugenommen, dass er von keiner Regierung mehr ignoriert werden kann.
Scheinbar fest in den Händen der Rechten liegt die Macht in Guatemala. Die oligarchischen Kreise haben es in diesem zentralamerikanischen Staat verstanden, den jahrelangen, von der UNO direkt unterstützten Kampf oppositioneller Gruppen gegen die seit Jahrzehnten vorherrschende Korruption zu neutralisieren und das Ruder sogar auf den alten Kurs zurückzudrehen. In dieser dramatischen Auseinandersetzung wird jetzt Rache geschworen und Rache geübt. Es geht dabei letztlich um die Erhaltung von Privilegien und garantierte Straflosigkeit für die wieder frei herrschende Klasse der Mächtigen in Politik und Wirtschaft, die seit den 1960er Jahren mit wenigen Unterbrüchen schalten und walten. Diese Restauration des Ancien Régime wird, wie der Berichterstattung der spanischen Zeitung «El País» zu entnehmen ist, mit zunehmender Zensur und Repression durchgesetzt (Artikel hier und hier).
In jenen Ländern Lateinamerikas, wo das Pendel wieder einmal mehrheitlich zugunsten von linksgerichteten Kräften auszuschlagen scheint, sind zumindest einmal gewisse Zweifel und Vorbehalte anzumelden. Wie überwältigend die Zustimmung der Stimmberechtigten in Chile zum Entwurf eines neuen Grundgesetzes 2019 auch ausgefallen war: Bei der Umsetzung des Volkswillens gab es zahllose Hindernisse. Drei chilenische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler haben den Versuch unternommen, die umstrittensten Punkte im neuen Verfassungstext herauszuarbeiten, der das definitive Ende der Pinochet-Epoche bedeuten sollte. Für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung stellt sich jetzt die schwierige Wahl, ob sie das neue Grundgesetz mit vielen strittigen Punkten gutheissen soll oder mit einem Nein die konstitutionelle Grundlage aus den Zeiten der Diktatur für unbestimmte Zeit beibehalten würde.
Ob man die seit Ende 2018 amtierende Regierung in Mexiko als linksgerichtet einstufen kann, damit haben wir uns in der vorherigen Nachrichtenübersicht aus Lateinamerika ausführlich befasst. Einige Initiativen, die unter Präsident López Obrador in Angriff genommen wurden, sprechen dafür, aber ein einheitliches und kohärentes Bild entsteht dabei nicht. Ähnlich heterogen und widersprüchlich sind die jüngsten Massnahmen, die Amtskollege Alberto Fernández in Argentinien ergriffen hat. Dazu gehört in erster Linie die Ernennung eines «Superministers» in der Person von Sergio Massa, der in der Vergangenheit mit Parteien aller möglichen Couleur geliebäugelt hat und schlussendlich im Lager des seit jeher populistisch getünchten Peronismus gelandet ist. Man kann darin kaum etwas Anderes sehen als den verzweifelten Versuch, den seit den 1960er Jahren anhaltenden Niedergang mit chronischer Überschuldung, Kapitalflucht und Notstand bei den Devisenreserven, nunmehr mit 70 Prozent per annum galoppierender Inflation und einer tragischen Verelendung immer breiterer Kreise der Bevölkerung endlich aufzuhalten – eine wahre Sisyphusarbeit.
Einen zusehends fragwürdigen Kurs schlägt der damalige Chefkommandant der Sandinisten-Revolution in Nicaragua ein. Daniel Ortega, der mehrmals vom Volk zum Staatspräsidenten gewählt wurde, die Grundregeln demokratischer Herrschaft aber immer gröber missachtet, hat in letzter Zeit auch ehemals führende GenossInnen unter erbärmlichen Haftbedingungen einsperren lassen, zuletzt eine der ranghöchsten Frauen der Bewegung. Seine Herrschaft scheint auf ein Regime hinauszulaufen, das in erster Linie die Interessen des eigenen Klans vertritt. Sie gleicht damit in zentralen Aspekten jener der jahrzehntelangen Diktatur der Familie Somoza, die 1979 nach einem langen und aufreibenden Kampf von der FSLN-Guerilla gestürzt wurde.
Von Häme und Hass freie Analysen der Reformbemühungen in Kuba sind in bürgerlichen Medien absolute Mangelware. «Makroskop», ein entwicklungspolitisch orientiertes Magazin, hat den Versuch unternommen, diesen Prozess aus neutraler, wissenschaftlich bemühter Warte darzustellen. Wer sich für substantielle Fakten in dieser Geschichte interessiert, dem ist der «Makroskop»-Beitrag sehr zu empfehlen.
Ein letztes Wort soll Kolumbien gelten, wo am vergangenen Sonntag erstmals in der 200-jährigen Geschichte der Republik ein Linker die Präsidentschaft der 50-Millionen-Nation übernommen hat. Das allein grenzt eigentlich an ein Wunder: Mehrere namhafte, um eine sozial engagierte Politik bemühte Figuren wie Jorge Eliécer Gaitán (1948) und Luis Carlos Galán (1989) hatten neben Tausenden anderer Gesinnungsgenossen ihr Leben auf diesem langen Weg gelassen – Opfer einer unstillbaren Mord- und Rachlust gegen Linke. Gustavo Petro musste sich in seiner Wahlkampagne mit einer etwa zehn Mann starken Leibwache gegen ständig drohende Attentate schützen.
Anstatt von Regierungsplänen, die erst einmal umgesetzt werden müssen, sei an dieser Stelle von einer Episode die Rede, die den Akt im Palacio Nariño in Bogotá prägte: Die nicht-kommunistische, linkspopulistische M-19-Guerilla, der Präsident Petro in jungen Jahren angehörte, hatte 1974, am Tag ihrer Gründung, das Schwert des Befreiers Simón Bolívar aus einem Museum entwendet und verschwinden lassen. Diese Trophäe wurde dem kolumbianischen Staat 1990 anlässlich eines Friedensvertrags und der militärischen Demobilisierung der M-19 zurückerstattet.
Petro liess seinen Amtsvorgänger, den rechtsliberalen Iván Duque wissen, dass er das Schwert Bolívars nach der Machtübernahme in seinen Händen halten wolle. Duque lehnte kategorisch ab. Unmittelbar nach seiner Amtseinsetzung erklärte Petro, sein erster Regierungsakt bestehe darin, das Schwert, das den Landsleuten während mehr als drei Jahrzehnten verborgen geblieben war, in den Regierungspalast bringen zu lassen. Soldaten in historischen Uniformen wurden abkommandiert, um das Museumsstück herbeizuschaffen. Der neue Staatschef und das versammelte Volk harrten aus, bis die historisch so bedeutsame Waffe zur Stelle war.
Insgesamt verstärkt sich der Eindruck, dass Lateinamerika im Zuge des erneuten Linkstrends seine einst unverbrüchlich geglaubten Bindungen an Europa und Nordamerika allmählich auflöst und neue Möglichkeiten aussenpolitischer und wirtschaftlich-finanzieller Abkommen mit China und Russland sowie mit der von diesen angeführten BRICS-Gruppe ausbauen will, zu der bis anhin auch Indien, Brasilien und Südafrika gehören. Wie lange diese Umorientierung auf eine multipolare Welt dauern wird, ist eine offene Frage. Dass eine Rückkehr zu alten Allianzen und Gewohnheiten aber durchaus möglich ist, wenn die Resultate an den Urnen – oder zum Beispiel die Stimmung in den Streitkräften – wieder zugunsten der Rechten kippen sollte, kann ebenso wenig ausgeschlossen werden.