Eine alte Dame erweist dem erlauchten Meister die tiefste Ehre: Im Laufe der Vorbereitungen zu ihrem 100-jährigen Bestehen 1921 hat die ehrwürdige Institution „Nederlandse Bachvereniging“ aus Utrecht sich etwas ganz Besonderes überlegt – und dabei auch uns beschenkt.
Die Netherlands Bach Society (NBS), wie sie sich auf Englisch nennt und die zu ihren Ehrenmitgliedern die Königin Elisabeth von Belgien und Albert Schweitzer zählt, hat sich nämlich die Gesamteinspielung von Bachs Werke vorgenommen: All of Bach. Und ja, Sie haben richtig gelesen: Die Gesamteinspielung! Diese Mammutaufgabe ist entstanden, um sämtliche Werke im Internet frei und zu jeder Zeit zugänglich für jede und jeden zu machen (vorausgesetzt das Internet funktioniert). Ist das nicht ein großartiges, einzigartiges Geschenk an die vernetzte Welt?
„Sie sagten: Johann Sebastian Bach?“
Was heute unvorstellbar erscheint, ist zu Lebzeiten von Felix Mendelssohns Realität gewesen: Der Thomaskantor war ziemlich in Vergessenheit geraten. Dank der Hartnäckigkeit Felix Mendelssohns wurde die Matthäus-Passion aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und damit ein „Bach-Revival“ in Gang gesetzt. Ohne Felix Mendelssohn hätte man wohl noch länger auf die Wiederentdeckung dieses musikalischen Schatzes gewartet. Und ohne Bach hätte ein wesentlicher Baustein der Musikgeschichte gefehlt, denn Generationen von Komponisten, Dirigenten, Instrumentalisten, Sängern, Instrumentenbauern, Musikpädagogen, Musikkritikern, und noch viele andere wurden von ihm inspiriert, beeinflusst, geprägt, genauso wie das Publikum von ihm fasziniert wurde. Bach kann man singen und spielen, aber auch tanzen, inszenieren, ins Jazzige jagen, mit Hilfe von Computern verwandeln, ohne ihn ins Lächerliche zu ziehen. Bach bleibt Bach und lacht sich ins Fäustchen, wenn die Versuche, sich mit seiner Musik zu messen manchmal fehlschlagen, sein Geist bleibt davon unberührt.
Das Universalgenie
Mittlerweile ist seine Musik ein fester Bestandsteil der Konzertprogramme und hat Grenzen überwunden, wie z.B. das 1990 gegründete Bach Collegium Japan es deutlich beweist. Ob das Werk lang, kurz, heiter, erhaben, spitzbübisch, nachdenklich, würdevoll, melancholisch, religiös, weltlich, aus dem Reich der Lebenden oder an der Schwelle ins Jenseits ist, Bach bietet für jeden etwas und für jede Gelegenheit. Was wären Ostern und Weihnachten ohne seine Passionen und sein Oratorium? Und zu jedem Sonntag des Jahres die passende Kantate. Die Schöpfungskraft des überaus fleißigen Komponisten wurde manchmal durch ein Wiederverwerten des musikalischen Materials etwas geschont, eine Praxis, die damals nicht unüblich war; das berühmteste Beispiel ist wohl das Weihnachtsoratorium, dessen Eingangschor woanders schon mal gehört wurde und bekannt vorkommt, … weil er schon eine Kantate schmückte. Bach ist mit nichts und niemanden zu vergleichen. Auch wenn außerordentliche Komponisten im Pantheon nicht fehlen, Bach bleibt einzigartig in seinem Schaffen, seiner Wirkung, seinem Nachhall. Und nur ein einzigartiges Unterfangen wie dieses mochte ihm gerecht werden.
Ein Gesamtkunstwerk
Noch ist das Projekt der NBS längst nicht zu Ende, es grenzt dennoch an ein Wunder, dass bereits eine traumhafte Fülle durch die Konzerte aufgenommenen Werke lebendig wurde und alle Genres umfassen: von der Kantate bis zum Instrumentalsolo, über Lieder und Arien, bis zu Orgelkompositionen, Kammermusik und Orchesterwerke. Der Niederländische Bach-Gesellschaft gelingt diese überaus spannende Aufgabe, indem sie neben ihrem begabten Ensemble hervorragende Solisten auftreten lässt. Mit ansteckender Bravour seitens der Interpreten werden Konzerte veranstaltet, denen nichts an Ästhetik fehlt, um zum Gesamtkunstwerk zu avancieren: Auch wenn manche Aufnahmen schlichter ausfallen oder modernere Aufführungen dabei sind, sind die meisten Aufnahmen in sorgfältig ausgesuchten Kirchen, Museen und Sälen entstanden, in denen das Licht angemessen dosiert und die Akustik akribisch geprüft ist; es ist als ob man in die Schatulle eines Kleinods hineintreten würde. Musiker und ihre originalen Instrumente sind vorteilhaft in Szene gesetzt, Solisten liebevoll begleitet. Viel Hingabe steckt im Detail! Und es gibt eine Menge zu entdecken, auch wenn man glaubt, alles von Bach schon zu kennen: Nicht nur die Konzerte sind eine Bereicherung, sondern auch die verschiedenen Interviews der Interpreten und die Entstehungsgeschichten der Werke, die diesen reichen Fundus ergänzen. Puristen und Spezialisten mögen über Tempi oder Besetzungen streiten, aber das Herz begeisterter Laien wie ich kann nur jubilieren.
Die ganze Musikbranche hat so sehr unter den Pandemie-Jahren gelitten, dass es recht erfreulich ist, festzustellen, dass das Projekt nicht zum Erliegen gekommen ist. Um es erfolgreich durchzuführen, voranzutreiben und die Kosten zu decken, die solch eine Aufgabe erfordert, ist die NBS von finanziellen Mitteln abhängig, die die Konzerteinnahmen weit übersteigen. Deshalb ist sie auf jeden Beitrag angewiesen, und je nach der Höhe der Beteiligung wird mit viel Geduld das passende Stück ausgesucht. Und wenn die Spende für ein ganzes Stück nicht ausreicht, dann kann eventuell eine Teilaufnahme oder ein paar englische Untertitel für eine Kantate finanziert werden: somit wird man auch noch Teil dieses Projekts.
Der lange Weg zum Menschwerden
Erstaunlich, und etwas befremdlich auch, bleibt allerdings die Tatsache, dass nicht Deutschland, die Heimat und Wirkungsstätte des Komponisten, sich ein solch aufwendiges Unterfangen einfallen ließ, sondern die Niederlande. Vielleicht ist man hierzulande mehr geneigt, Milliarden für Aufrüstung auszugeben statt für universelle Kultur? Um mit Edvard Grieg zu schließen:
„Da sitzen wir Künstler und reden von Kultur und Zivilisation – wie wenig haben wir ausgerichtet. Schlachtengesänge und Requien mögen sehr schön sein und doch ist die Aufgabe der Kunst eine höhere: Sie sollte den Völkern so verständlich werden, dass sie als Friedensbote wirkte, dass ein Krieg als unmöglich empfunden würde. Dann erst wären wir Menschen geworden.“
All of Bach: https://www.bachvereniging.nl/en/allofbach