Romeo Rey für die Onlinezeitung Infosperber
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von Tages-Anzeiger und Frankfurter Rundschau, fasst die jüngste Entwicklung zusammen.
Mit dem deutlichen Nein des Chilenischen Volks zum Entwurf einer progressiven Verfassung ist Chile an einen ähnlich komplexen Ausgangspunkt zurückgekehrt wie am 4. September 1970, als der Sozialist Salvador Allende die Präsidentenwahl mit 36 Prozent gewann. Damals wie heute scheint die innenpolitische Arena in drei relativ klar definierte Sektoren gespalten zu sein. Ohne Verständigung und Kompromisse in den grundlegenden Fragen mit der bürgerlichen Mitte wird es der Linken kaum gelingen, ihr Programm für die nächsten dreieinhalb Jahre auch nur annährend zu verwirklichen. In erster Instanz wird so objektiv und nüchtern wie möglich zu klären sein, warum 2020 noch rund 80 Prozent der Stimmenden vehement für eine neue Verfassung eintraten, aber nur 37 Prozent den aktuellen Vorschlag angenommen haben.
Wie vor einem halben Jahrhundert lauert als grösste Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes die Inflation. Zum ersten Mal seit zwei Generationen erreicht sie in diesem Andenland den zweistelligen Bereich. Das allein könnte ein grosser Stolperstein für die Regierung Boric sein, wenn es ihr nicht gelingt, dieses Übel rasch und nachhaltig unter Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig lauern wie damals Konflikte und Machtkämpfe mit den Bergbaukonzernen und deren lokalen Verbündeten. Eine Analyse der «Deutschen Welle», die vor der Abstimmung zur neuen Verfassung erschien, stellt diesbezüglich zentrale Fragen. Gleichzeitig sieht sich Präsident Boric mit seiner Equipe alltäglichen Problemen gegenüber, die an Aktualität und Heftigkeit auch nicht zu unterschätzen sind.
Alte Risse kitten
Linksgerichtete Regierungen haben in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas erfahrungsgemäss grössere Anstrengungen als Bürgerliche unternommen, um Konfliktherde zwischen einzelnen Nationen auszuräumen.
Wichtige Bemühungen um eine Annäherung gibt es gegenwärtig zwischen Ländern, die im Fall von Kolumbien und Venezuela eben noch unversöhnlich verfeindet waren und zwischen Bolivien und Chile, die seit Jahrzehnten nur prekäre, von Misstrauen geprägte diplomatische Beziehungen unterhalten haben. Warum, so fragt man sich, war ein solches Entgegenkommen in früheren Zeiten, als konservative Politiker da und dort das Sagen hatten, nie nachhaltig versucht worden? Waren es nur ideologische Differenzen, die eine Versöhnung verhinderten? Oder gab es im Hintergrund Kräfte, die nach dem Prinzip von divide et impera mit dem Status quo durchaus zufrieden waren?
In diesem Zusammenhang äussert sich Álvaro García Linera, früherer Vizepräsident Boliviens und intellektueller Rektor der Regierung Morales, zu den politischen Perspektiven in Lateinamerika anlässlich der Rückkehr linksgerichteter Kräfte an die Schalthebel der Macht. Er stellt fest, dass mit dem durch Wahlen erreichten Kurswechsel in Chile, Peru und Kolumbien just jene drei südamerikanischen Nationen, die eben noch als konservativ-liberale Bollwerke erschienen, nun plötzlich im anderen Lager auftauchen. Gleichzeitig warnt er vor den Umtrieben einer Rechten auf dem Subkontinent, die in Ton und Inhalt immer radikaler auftrete.
Eine neuere Einschätzung der Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika bestätigt, was wir seit mehreren Jahren immer wieder beobachtet haben: das Seilziehen um eine Intensivierung des Handels der Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) mit der EU ist festgefahren, und nach wie vor deutet wenig auf einen Abschluss des betreffenden Rahmenabkommens hin.
Schwieriger einzuordnen ist die Lage im zentralamerikanischen Kleinstaat El Salvador. Seit einem halben Jahr befindet sich dieses Land, das halb so gross ist wie die Schweiz, aber 6,5 Millionen Einwohner zählt, im Ausnahmezustand. An die 50’000 vorwiegend junge Menschen wurden verhaftet und harren einer Verurteilung wegen Zugehörigkeit zu den Maras genannten Banden. Offensichtlich hat Staats- und zugleich Regierungschef Nayib Bukele im Parlament genug Stimmen, um diesen Versuch einer Säuberung nach fernöstlichem Muster durchzuziehen. Seine Politik der harten Hand mag die vermögende Minderheit beruhigen, doch ist zweifelhaft, ob die Justiz mit einem derartigen Schwall von Strafprozessen nicht heillos überfordert sein wird.
Paraguay: Eldorado für «Bitcoin-Schürfer»
Paraguay, einer jener wenigen Staaten Südamerikas, in denen die Neoliberalen noch das Szepter in ihren Händen haben, ist in wenigen Jahren zu einem Mekka für Einwanderer aus der Alten Welt geworden. Vor allem aus Deutschland haben sich Scharen auf den Weg gemacht, die von Europa und seinen Nöten die Nase voll haben und neue Horizonte suchen. Relativ klare «Tarife» für eine geruhsame Niederlassung und einfache bürokratische Mechanismen erleichtern den Entscheid, das Glück in der Neuen Welt zu suchen. Unter den Einwanderern befinden sich offenbar auch manche «Bitcoin-Schürfer», die günstige lokale Bedingungen für grosse Geschäfte mit Kryptowährungen nutzen wollen.
Das Binnenland im Herzen des Subkontinents hat just hinsichtlich der Achillesferse dieses neuen Wirtschaftszweigs – des enormen Energieaufwands – beste Bedingungen anzubieten. Wo früher Schmuggelware aus aller Welt feilgehalten wurde, schiessen jetzt Installationen aus dem Boden, die dem «Schürfen» von Bitcoins und anderen Kryptowährungen mittels komplizierter digitaler Operationen ideale Voraussetzungen gewähren. Nirgends auf dem Erdteil kostet das Kilowatt Strom weniger. Dank den riesigen Staudämmen von Itaipú und Yacyretá hat Paraguay seit deren Errichtung vor einem halben Jahrhundert Anrecht auf die Hälfte der erzeugten Energie. Das sind Unmengen von Elektrizität, womit das relativ kleine und industriell wenig entwickelte Land bisher nichts anderes machen konnte, als fast allen Strom an seine grossen Nachbarn Brasilien und Argentinien zu verkaufen. Zusammen mit jenen Einwanderern, die die nötigen Kenntnisse mitbringen, treffen auch schon die ersten Multis aus der nördlichen Hemisphäre in Asunción ein, die an dem beginnenden Boom der Kryptobranche teilhaben und absahnen wollen.
Inflation stürzt Argentinien und Ecuador ins Elend
Die endlose Krise in Argentinien scheint in ein Stadium zu treten, das einem Purgatorium zu gleichen verspricht, wo aber kaum eine Läuterung möglich sein wird. Ein lokaler Beobachter kommentiert diesen Vorgang aus einer nicht-peronistischen Warte, jedoch ohne für die konservative Opposition Partei zu ergreifen. Er analysiert die inner-peronistischen Machtverhältnisse in einem geduldigen Versuch, dieses komplizierte populistische Universum zu entwirren. (Etwa das erste Drittel wurde gekürzt, da diese einleitenden Gedankengänge dem Verständnis eher abträglich als dienlich sind.)
Auch in Ecuador wird die Inflation mehr und mehr zu einem brisanten Thema. Die Vermessung der Teuerung bringt ähnliche Resultate zum Vorschein wie in Argentinien. In beiden Ländern wurde der Brand durch neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik entfacht – hier durch den Exbanker Guillermo Lasso, dort durch fast alle Vorgänger des amtierenden Präsidenten Alberto Fernández.
Wohl eher der Not gehorchend als dem eigenen Trieb, hat Kuba neue Massnahmen zur Lockerung der Spielregeln gegenüber fremdem Kapital angekündigt. Auch hier drängen sich grundsätzliche Fragen auf: Wie erfolgreich kann diese Öffnung sein, solange das seit über 60 Jahren bestehende US-Embargo mit unverminderter Härte durchgezogen wird? Und warum passt andererseits Havanna seine Steuergesetze nicht in dem Sinne an, dass privates Kapital sowohl fremder wie auch lokaler Herkunft willkommen ist, solange es sich mit angemessenen Renditen zufrieden gibt, seine Bücher offenlegt, legitime nationale Interessen respektiert und ausbeuterische Verhältnisse in den Betrieben vermeidet?
Aus linker Perspektive scheint sich Venezuela, wie die deutsche Tageszeitung «Junge Welt» vermerkt, nach jahrelangem Gang durch ein Tal von Tränen, Blut und Schweiss allmählich zu erholen. Fast alle Zahlen, die hier genannt werden, bedürfen gewiss einer Relativierung: Das Bruttoinlandsprodukt, die Erwerbslosenquote, die Erdölförderung und Teuerungsrate müssen dahin interpretiert werden, dass diese Messungen nach einem katastrophalen Zusammenbruch erfolgen, der teils den happigen US-Sanktionen, teils aber auch eigenen Fehlern geschuldet ist. Die gegenwärtige wirtschaftliche Erholung mag daher spektakulärer erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist, und wird ihre Nachhaltigkeit erst noch erweisen müssen. Realen Fortschritt deuten anderseits die Angaben zur Nahrungsmittelproduktion nationaler Herkunft an. Die einst in guten wie in schlechten Zeiten immer überbordenden Lebensmittelimporte sind damit, der Not gehorchend, offenbar einer neuen Realität gewichen, die man in der an natürlichen Ressourcen reichen Nation nur begrüssen kann.
Brasilien harrt unterdessen der Endphase eines Wahlkampfes, in dem die Fetzen fliegen. Ein Blog in der «taz» schildert den Weg von Staatschef Jair Bolsonaro auf der Suche nach absoluter Macht, wobei gewisse Parallelen zur Präsidentschaft Trump in den USA deutlich werden. Das «JPG-Journal» zeigt auf, mit welchen harten Bandagen um den Sieg gekämpft wird – wenn immer möglich schon im ersten Wahlgang. Und hier stellt sich auch die Frage, wie sehr Bolsonaro auf die Anhänger*innen evangelikaler Kirchen zählen kann. Etwa die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens soll sich mittlerweile als solche definieren.