Nach dem Ende des sogenannten »Tausendjährigen Reichs«, wurden die Deutschen mit den Hinterlassenschaften ihres Wahns konfrontiert. Ein Volk mühte sich, das zu vergessen, was es verschwieg: seine Bereitschaft zur Teilnahme an einem System der Barbarei. Es begann die individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Und die Frage „Wie war es möglich?“
Von Helmut Ortner
Schuld kann nicht nur einzelne Menschen betreffen, sondern ganze Generationen, nicht nur einzelne Taten, sondern ganze Abschnitte der Geschichte. Gesellschaftliche Schuld und individuelle Schuld – wo bedingen sie einander, wo ergänzen sie sich, wo fügen sie sich zu einer großen einvernehmlichen Allianz des Inhumanen, der Barbarei? Der deutsche Autor und Jurist Bernhard Schlink spricht von einer kollektiven Vergangenheitsschuld.
Tatsache ist: Die Zeit des „Dritten Reiches“ entschwindet der Zeitgenossenschaft, der Nationalsozialismus verabschiedet sich gewissermaßen aus dem kollektiven Vorrat persönlicher Geschichtserfahrung. Täter und Opfer sterben aus. Für die allermeisten Menschen in meinem Land ist die Hitler-Zeit keine erlebte Vergangenheit, sondern nur mehr Geschichte. History, not memory.
Die Generation, der ich angehöre, die nach dem Krieg geboren wurde und der laut unserem ehemaligem Kanzler Helmut Kohl die „Gnade der späten Geburt“ zuteilwurde, diese Generation der Nachgeborenen trägt keine Schuld – aber sie hat die Verpflichtung zur Erinnerung. Denn: das vergangene Geschehen ist, wie der deutsch-französische Publizist Alfred Grosser anmerkt, „keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist.“
Mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende finden Prozesse gegen NS-Täter statt, die vor Jahrzehnten hätten stattfinden müssen – aber nicht stattfanden. In Norddeutschland steht ein 94-jähriger Greis vor Gericht: ein ehemaliger Auschwitz-Wachmann. Obwohl ihm die Richter keine konkrete Tatbeteiligung nachweisen konnten, wird er wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ein ungewöhnliches Urteil. Während der Verhandlung tut der Angeklagte das, was die meisten seiner Generation getan haben, wenn es um ihr Tun und Nichtstun zwischen 1933 und 1945 ging: er schweigt.
Nicht einmal seiner Familie habe er über Auschwitz erzählt, berichtete seine Verteidiger. Der erwachsene Sohn des Angeklagten sitzt im Gerichtssaal: ratlos, sprachlos, verunsichert. Was wusste er über das Tun seines Vaters? Was hätte er wissen können? Hat er ihn jemals befragt? Zu Hitler-Deutschland, zu Auschwitz, zu seiner Zeit als junger Soldat? Zum Schweigen gehören häufig zwei: einer, der nichts sagt, und ein anderer, der nichts fragt. Nach dem Krieg wurde in vielen deutschen Familien geschwiegen.
Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass der frühere Wachmann des Vernichtungslagers mit seinem Einsatz zum Funktionieren der Mordmaschinerie in Auschwitz beigetragen hat. Die Staatsanwaltschaft stellt fest, der Angeklagte habe einen Beitrag zum „reibungslosen Ablauf der Massenvernichtung“ geleistet, das Morden billigend in Kauf genommen. Eine untergeordnete Rolle spielt dabei, wie groß dieser Beitrag gewesen war, so das Gericht.
Das Urteil: Fünf Jahre Haft. Zum ersten Mal ist von einem deutschen Gericht gesagt worden, dass man als „einfacher“ SS-Mann für alle Morde in Auschwitz mitverantwortlich war – und ist. Der Schuldspruch hat eine Botschaft: als SS-Bewacher in Auschwitz ist jeder zum Täter geworden. In Auschwitz durfte man nicht mitmachen.
Nach dem Prozess bleibt vor allem die eine Frage, die über dem gesamten Verfahren schwebte: Warum hat es mehr als sieben Jahrzehnte gedauert, bis dem Angeklagten der Prozess gemacht wurde? Die Antwort ist so einfach wie erschreckend: weil die Gesellschaft, der Staat, die Justiz es nicht wollten. Nicht nach dem Krieg, nicht in der Adenauer-Republik, nicht in der sozialdemokratischen Brandt-Schmidt-Ära, nicht unter Helmut Kohl.
Nun kann man die Regierungen für das mangelnde Interesse der zuständigen Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden, sowie der Verschleppung der Verfahren nicht unmittelbar verantwortlich machen – in einem Rechtsstaat gibt es eine unabhängige Justiz. Es fehlte an gesetzgeberischen Signalen. Es fehlte der politische Wille, NS-Straftäter – als diese noch keine Greise waren – vor Gericht zu bringen.
So blieb das Strafverfahren gegen den alten SS-Mann vor allem eines: ein Symbol. Es erinnerte daran, dass eine Beteiligung an staatlichen Massenmorden nicht ungesühnt bleiben darf, selbst wenn dies erst nach vielen Jahrzehnten geschieht.
Der SS-Wachmann wurde verurteilt – mit 94 Jahren. Der Schuldspruch gegen ihn erinnert daran, dass Zigtausende Mörder, Schreibtischtäter und Mordgehilfen ohne Strafe davonkamen. Es ist eine Tatsache: Die Aufarbeitung des NS-Unrechts durch die deutsche Nachkriegsjustiz ist eine Geschichte der Verspätung und Verzögerung.
Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten
Bis 2005 wurden insgesamt gegen 172.294 Personen wegen strafbarer Handlungen während der NS-Zeit ermittelt. Das ist angesichts der monströsen Verbrechen und der Zahl der daran Beteiligten Menschen nur ein winziger Teil. Das hatte seine Gründe: Im Justizapparat saßen Anfangs dieselben Leute wie einst in der NS-Zeit. Viele machten sich nur mit Widerwillen an die Arbeit. Auch politisch wurde auf eine Beendigung der Verfahren gedrängt, dafür sorgten schon zahllose Amnestiegesetze.
Nur 14.693 Angeklagte mussten sich tatsächlich vor Gericht verantworten. Verurteilt wurden schließlich gerade einmal 6.656 Personen, für 5.184 Angeklagte endete das Verfahren mit Freispruch. Die meisten Verurteilungen – rund 60 Prozent – endeten mit geringen Haftstrafen von bis zu einem Jahr. Vor dem Hintergrund eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte eine skandalöse, empörende Bilanz.
Von der Justiz hatten die NS-Täter nichts zu befürchten. Und von der Gesellschaft? Von Bekannten, Nachbarn, Arbeitgebern? „Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein“ – so lautete das einverständliche Credo. Die meisten Deutschen wollten von Kriegsverbrechern, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von den Nazi-Verstrickungen, von schuldhaften Täter-Biografien, kurz: vom moralischen und zivilisatorischen Desaster des Hitler-Deutschlands nichts mehr wissen.
Die Politik von Deutschlands ersten Nachkriegs-Bundeskanzler Konrad Adenauer stand vom ersten Tag an im Zeichen von Amnestie und Integration der Täter. Straffreiheit für bestimmte staatliche Akte der NS-Diktatur zum Bestandteil der Rechtsordnung zu machen, darum ging es. So verwandelten sich Tötungs- und Gewaltdelikte in eine „von oben“ befohlene Straftat ohne eigene Verantwortung. Die Täter und deren Taten wurden „weißgewaschen“. Sie hatten angeblich keine eigene, sondern eine „fremde“ Tat begangen. Gewissermaßen stellvertretend ihre Pflicht erfüllt, ihrem Eid verpflichtet – für Partei, Volk und Vaterland. Wo Gehorsam höchste Tugend war, konnte die Erfüllung der Tugend nichts Schlechtes sein. Es war ein Geist, der biedere Bürger dazu führte, verwerfliche, erniedrigende, menschenunwürdige Anweisungen blind zu befolgen, weil die meisten sie befolgten. Befehl war Befehl. Verordnung war Verordnung. Gesetz war Gesetz.
Den Auftakt dieser Vergangenheitsumdeutung bildete zu Jahresende 1949 ein erstes, vom Bundestag einstimmig im Eilverfahren verabschiedetes Straffreiheitsgesetz, das sämtliche Straftaten amnestierte, die vor dem 15. September 1949 begangen worden waren und mit einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten geahndet werden konnte. Gut 80.000 Personen profitierten davon.
Die bei den Deutschen ohnehin bestehende Neigung, dem fundamentalen Unrechtscharakter des NS-Regimes und seiner Eroberungskriege aus dem kollektiven Bewusstsein auszublenden, wurde also von der Adenauer-Regierung konsequent umgesetzt. Unter dem Eindruck zeigte vor allem die Justiz nur wenig Neigung, ehemalige NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, zumal dort bekanntlich eine besondere starke personelle Kontinuität zur NS-Zeit gegeben war. Die Bereitschaft, in NS-Strafsachen zu ermitteln und zu handeln, ging auf nahezu null.
Es gab Ausnahmen: mutige Frauen und Männer, wie etwa Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt im Bundesland Hessen, ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft, der zu den wenigen unbelasteten Justizjuristen gehörte, die in der jungen Bundesrepublik eine Führungsposition einnahmen und der nichts so hasste, wie die gängigen Verteidigungs- und Entschuldigungsformeln der Verharmlosung.
Ein »Ketzer«, der die Deutschen zum Hinsehen zwang
Bauer setzte die Aufhebung der Verjährungsfrist für NS-Morde durch, ohne ihn hätte es 1963 den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess nicht gegeben. Und ohne diesen Prozess gegen ehemalige Bewacher des Vernichtungslagers hätte die deutsche Öffentlichkeit noch viel die NS-Verbrechen verdrängt. Und er sorgte mit dafür, dass Adolf Eichmann in Israel vor Gericht gebracht wurde, dem Chef-Organisator des Holocaust. Fritz Bauer zwang die Deutschen zum Hinsehen, trotz und inmitten einer Justiz, die noch immer von braunen Seilschaften durchsetzt war. „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, beschrieb er einmal seine Lage später in einem Fernsehinterview.
Bauer erkannte klarsichtig, dass der NS-Staat kein Betriebsunfall der Geschichte war, und wies auf die geschichtlich gewachsenen Strukturen und Mentalitäten hin, die den NS-Verbrechen so sehr entgegenkamen und die aufzubrechen mehr erfordern würde als Gerichtsprozesse. Damit handelte er sich nicht nur den Zorn konservativer Kreise ein. Bauer wurde gemieden, bekämpft und bedroht. In einer Nachkriegsjustiz, die die personelle Kontinuität mit der NS-Justiz wieder hergestellt hatte, war er ein Ketzer. Er hatte wenig Freunde. Er starb 1968 als einsamer Mann.
Es bleibt eine beschämende historische Tatsache: Zehntausende Juristen, Ärzte, Unternehmer, Journalisten und Offiziere, die dem NS-Regime in wichtigen Positionen gedient hatten, setzten erfolgreich „entnazifiziert“ – in der Bundesrepublik ihre Karrieren fort. Die Opfer aber, die Hinterbliebenen und Verfolgten, die ins Exil gedrängten und Ausgegrenzten, sie alle mussten häufig über Jahre erniedrigende Erfahrungen im Kampf um ihre Wiedergutmachungs- und Versorgungsansprüche machen.
Danach, was ihre Großväter und Väter angerichtet, zugelassen und warum sie weggesehen hatten – wie die Opfer entschädigt und rehabilitiert wurden, danach wurde erst in den 1960er Jahren und 70er Jahren gefragt. Die sozialdemokratisch-liberale Regierung unter Willy Brandt, der als junger Mann vor den Nazis ins norwegische Exil geflüchtet war, sorgte dafür, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit – aber auch der Zeit nach 1945, die Zeit der Integration der Täter und Belasteten – in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurden. Das lange Schweigen und Vertuschen ging damit zu Ende. Eine schmerzhafte öffentliche, kollektive Auseinandersetzung – aber eine notwendige.
Die »zweite Schuld« in West und Ost
Und in der DDR, dem anderen, bis 1989 kommunistischen Teil Deutschlands? Der „sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat“, – so dessen propagandistische Selbstdefinition – glaubte, sich der braunen Vergangenheit entledigen zu können. Mit den personellen Hinterlassenschaften des NS-Regimes wollte man nichts zu tun haben. Über eine Million ehemalige Nazi-Parteigänger wurde lautlos integriert, bei brisanten Täter-Biografien unter aktiver Mithilfe des Staatssicherheit-Apparates, dem allgegenwärtigen Geheimdienst. Hier sorgte eine gesonderte Expertengruppe – bestehend aus über fünfzig Mitarbeitern – dafür, den antifaschistischen Schein zu wahren. Es war die Zeit des sogenannten „Kalten Krieges“.
Ob Ost oder West – die Frage bleibt: gibt es eine kollektive Schuld? Machen sich alle, die die Vergangenheit verdrängen oder gar leugnen, nicht mitschuldig? Der deutsche Publizist Ralph Giordano hat dafür den Begriff von der „zweiten Schuld“ geprägt. Gibt es nicht eine individuelle Moral, eine ganz und gar persönliche Schuld? Wer waren die Täter des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges? Waren sie Bestien oder Befehlsempfänger, desinteressierte Bürokraten und willenlose Rädchen im Getriebe? Waren sie ideologisierte Überzeugungstäter oder gewöhnliche Verbrecher?
Die Geschichtswissenschaft hat sich jahrzehntelang fast ausschließlich auf die Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich oder auch Schreibtischtäter wie Eichmann konzentriert und die Akteure der zweiten und dritten Ebene, die Vollstrecker vor Ort, ausgespart.
Wie aber wird man zum Täter, zum Befehlsverbrecher? Wie werden aus ganz gewöhnlichen Männern inhumane, barbarische Vollstrecker? Was trieb Männer dazu, zu Schreckensfiguren, zu Mördern zu werden? Studien der Täterforschung zeigen, wie extreme Konformitätsbereitschaft sich entladen kann, wenn Gruppendruck und Situationen es erfordern – oder soll man sagen: ermöglichen?
Gilt das, was für den Soldaten zutrifft, auch für den „gewöhnlichen“ Bürger, für Verwalter und Funktionsträger? Sind sie nur mitgelaufen, haben sie weggesehen, weil alle weggesehen haben? Razzien und Verhaftung gegen Oppositionelle, Todesurteile des Volksgerichtshofes gegen Widerstandskämpfer – auf blutroten Plakaten, öffentlich ausgehängt, jüdische Mitbürger, die ausgegrenzt, verfolgt und verhaftet, schließlich in Konzentrationslagern transportiert wurden – für die meisten eine Fahrt in den Tod …. Vergangenheitsbewältigung – eine Lebenslüge der Deutschen? Ein juristischer, gesellschaftlicher und politischer Etikettenschwindel? Kann, was geschehen ist, überhaupt bewältigt werden?
Deutschland in den 2000er Jahren: Das Geschehene weicht einem historischen Mythos, der keine Widersprüche kennt. Die Gestalten, die Propaganda, die Verbrechen der Nationalsozialisten, das reale Grauen schlägt mitunter um in schaudernde Faszination. Die Nazi-Ära verkommt zur beliebig ersetzbaren Chiffre des Bösen – mit einem verhängnisvollen Nebeneffekt: der Verharmlosung.
Es waren die Funktionseliten der Hitler-Zeit, die das neue Deutschland bis in die 1970er Jahre hinein entscheidend gestalteten, erst danach drängte eine junge „skeptische Generation“ von Reformern in allen gesellschaftlichen Bereichen auf Aufklärung und Wandlung. Diese Generation wuchs in wahrer Liberalität heran und ergriff die Chance, zu passablen Demokraten zu werden.
Die Täter sterben aus – die Opfer und Zeitzeugen ebenfalls. Mit Blick auf die Gegenwart, in der persönliches Erinnern immer seltener wird, braucht es deshalb Wissen, wie „es geschehen konnte“, nicht nur die Bereitschaft zur Erinnerung, sondern die Pflicht des Erinnerns. Die Frage „Wie war es möglich?“ darf nicht verjähren.
Helmut Ortner, Volk im Wahn / Hitlers Deutsche – Über die Gegenwart der Vergangenheit
Dreizehn Erkundungen, Edition Faust, 296 Seiten, 22 Euro